Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes
 
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Das vollständige Buch mit allen Bildern, die im Text erwähnt und beschrieben werden, ist im grin-Verlag erhältlich. Im Internet lautet die Bezugsquelle  http://www.grin.com/e-book/116707/die-tracht-als-veraenderliche-kleidung , die ISBN-Nummer des E-book lautet:
 ISBN (E-Book): 978-3-640-18704-1, 
die für das Buch auf Papier über den Buchhandel:
 ISBN (Buch): 978-3-640-18857-4.

Hier findet sich  nur der Text, unter "Bilder" die wichtigsten Kleidungsstücke der Untergerichtstracht.
Kommentare können sehr gerne unter "Gästebuch" abgegeben werden.





Die Tracht als veränderliche Kleidung

 

 

Beschrieben anhand der Trachten des Hessischen Hinterlandes,

insbesondere der Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes.

Landkreis Marburg-Biedenkopf

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von

Christoph Kaiser,

Biedenkopf-Wallau

 

 

 

1.      Vorwort

2.      Die Tracht in der heutigen Wahrnehmung

3.      Die Tracht in der zu ihr zeitgenössischen Literatur

4.      Die Tracht in der Wahrnehmung eigentlicher Trachtenträgerinnen

5.      Die Bestandteile der Hinterländer Frauentrachten im Zeitenwandel

6.      Die Farbenlehre der Tracht

Schwarz

      Rot-Grün

      Weiß

7.      „Kleiderordnung“ für Frauen des Untergerichts des Breidenbacher Grundes

8.      Die Männertracht

9.      Die Kindertracht

10.  Nachwort

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein ganz herzlicher Dank gilt Elvis Benner für seine Mitarbeit, Kenntnis und Geduld sowie Herrn Bamberger und Frau Coburger vom Schlossmuseum Biedenkopf für ihre Mithilfe.

 

 

Ganz herzlichen bedanken möchte ich mich auch bei meinen „Models“, Jennifer Stoll und Marta Routa, die mit Elvis Benner und mir in Tracht Mittelhessen unsicher machen.

 

 

Meine Hochachtung allen Verfasserinnen und Verfassern der von mir benötigten Literatur, insbesondere aber Liesel und Franz Konrad für ihre präzise und unfassbar detaillierte Arbeit zur Geschichte des Dorfes Wallau an der Lahn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

Alltägliches gerät unendlich schnell in Vergessenheit, sobald es nicht mehr alltäglich ist. Es ist erstaunlich, aber das Aussterben einer kompletten Tracht, die fast zwei Jahrhunderte die Straßen eines Teils Mittelhessens prägte, vollzog sich fast ohne alle Beachtung. Noch kurz nach dem Jahr 2000 waren die Straßen Wallaus, wohin ich damals erst kurz zuvor gezogen war, im Bewusstsein einiger Bewohner gefüllt mit alten Frauen in der Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes. Tatsächlich trug keine einzige Frau mehr diese einmalige Tracht im Alltag. Sie war unbemerkt wortwörtlich ausgestorben.

 

Mir blieben nur Bilder, die ich mit großer Aufmerksamkeit studierte, denn ich bedauerte es sehr, nicht bereits zu Anfang meines Studiums Anfang der 1990er Jahre ins Hinterland gefahren zu sein und die Trachtenträgerinnen noch „live“ erlebt zu haben, aber in Marburg sprachen meine Bekannten nie davon, für sie war es zu alltäglich, mir blieb es unbekannt. Also studierte ich diese Bilder einer inzwischen untergegangenen Welt und stellte fest, dass nicht alles, was man mir über die Tracht erzählt hatte oder was noch als Tracht zu Festen getragen wurde, mit den alten Bildern in Einklang zu bringen war. Aus dieser Beschäftigung entstand im Laufe mehrere Jahre diese kleine Schrift.

 

Sie versteht sich nicht als besserwisserische Neuordnung allen vorhandenen Wissens über die Tracht, sondern lediglich als Gedankenanstoß noch einmal zu überprüfen, was als erwiesen gilt, obwohl es nur allgemein wiederholt wird. Ich hoffe, ich konnte meine Gedankengänge so gut belegen, dass sie als Hypothesen zu gebrauchen sind.

 

Insbesondere möchte ich mich nicht als Besserwisser gegenüber den Kindern und Enkeln der echten Trachtenträgerinnen aufspielen, sondern nur meine Gedanken eines Außenseiters mitteilen. Manchmal sieht ein unbefangener Außenseiter die kleinen Fehler, die sich im Laufe der Zeit eingeschlichen  haben, deutlicher, da er nicht bereist im Voraus ein fertiges Meinungsbild im Kopf hat, sondern alles erst selbst erschließen muss.       

 

Zu guter letzt möchte ich der Untergerichtstracht ein weiteres kleines Denkmal setzen. Dieser kleine Text ist keine so genaue Beschreibung der Tracht wie das Buch von Ursula Ewig, oder so eine große Felduntersuchung wie „Der Tracht treu geblieben“; trotzdem hoffe ich doch noch ein paar Aspekte gefunden zu haben, die in der bisherigen Literatur über die hiesige Tracht nicht so gesehen oder herausgearbeitet wurden.  

 

 

Wallau an der Lahn, den 4.7.2008

 

 

 

 

 

1. Die Tracht in der heutigen Wahrnehmung

 

Das 20. Jahrhundert war das erklärte Jahrhundert der Individualisten. Zumindest flammte der Individualismus z.B. in Gestalt der Wandervogelbewegung immer wieder als Gegengewicht zu staatlicher Obrigkeit, Militarismus und Uniformität auf, seit dem Zweiten Weltkrieg noch politisch antifaschistisch motiviert, seit der 68er-Bewegung allgemein akzeptiert und in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung anerkannt. Dieses Experiment muss zu Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest als zum Teil gescheitert betrachtet werden, besteht die Unangepasstheit und Individualität der meisten erklärten Individualisten doch in der Auswahl von Moden, Schuhen und sogar Möbelstücken aus einem fest umgrenzten Sortiment. Individualist ist dann, wer die „richtigen Klamotten“, trägt, oder seine uniform vorgefertigten Möbel selbst zusammengeschraubt hat.

„Tracht“ im eigentlichen althergebrachten Sinn ist daher für viele Menschen ein nicht mehr sicher einzuordnender Begriff, nicht nur in den Städten, sondern sogar in Gebieten, die bis vor weniger als 10 Jahren noch selbst lebendiges Trachtengebiet waren. Nur noch selten ist tatsächlich ein Verständnis dafür anzutreffen, dass so genannte „Trachtenmode“ nichts mit echter Tracht zu tun hat und dass in Hessen tatsächlich nie Dirndl getragen wurden, weder solche aus echter Tracht noch aus der Trachtenmode, obwohl inzwischen selbst im Hessenpark zur Begrüßung Trachtenmoden ohne Tradition und Geschichte angeboten werden, aber kein einziges hessisches Trachtenstück. Dazu passt auch, dass selbst Ältere aus benachbarten Trachtengebieten heute kaum noch die Trachten der anderen Gebiete erkennen, wenn sie sie von jungen Frauen getragen sehen.

 

 Zu diesen seltenen Gebieten mit einer noch in ihren überlieferten Regeln im Alltag bis vor kurzem lebendigen echten Tracht gehört neben der bekannteren Schwalm und den evangelischen sowie den katholischen Dörfern um Marburg, der Gegend um Hüttenberg in der Wetterau und dem Schlitzer Land ein Teil der oberen Lahn in Hessen, das so genannte Hinterland.

Seinen merkwürdigen Namen verdankt diese Region, die sich ursprünglich in einem schmalen Streifen von Battenberg bis nach Hermannstein bei Wetzlar hinzog, seiner früheren Zugehörigkeit zu Hessen-Darmstadt, die in der kirchlichen Zugehörigkeit bis heute abzulesen ist. Hier befindet sich heute das Dekanat Biedenkopf der Propstei Nord-Nassau in der Kirche von Hessen und Nassau, das sich noch immer wie ein Schlauch zwischen die Gebiete der Landeskirchen von Westfalen und Kurhessen-Waldeck drängt. Von der alten Hauptstadt Darmstadt aus gesehen also tatsächlich absolutes Hinterland.

 

In dieser Gegend erhielten sich noch bis in die letzten Jahre zwei der altertümlichsten Trachten Deutschlands, die Tracht des Amtes Biedenkopf, die so genannte "Dellmutschentracht", und die Tracht des Breidenbacher Grundes, die wiederum in die Tracht des ehemaligen Obergerichts und die des ehemaligen Untergerichts zerfällt. Eine dritte Tracht muss seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als ausgestorben gelten, nämlich die Tracht des Amtes Blankenstein, nach ihrer auffälligen Haube auch „Schneppekappentracht“ genannt. Die ebenfalls im Hinterland vorhandene Tracht der evangelischen Marburger Dörfer wurde schon sehr oft behandelt und wird bei mir nur eine Nebenrolle spielen. Da ich selbst in Wallau wohne und mit der hiesigen Tracht, also der des Untergerichts des Breitenbacher Grundes, am besten vertraut bin, möchte ich mich in erster Linie der letztgenannten Form der Hinterländer Tracht zuwenden.  Die letzte Trägerin der spätesten Form der Untergerichtstracht, die mir bisher begegnete, eine Frau aus Kleingladenbach, kaufte noch in der jüngsten Form der Tracht des Untergerichts im Frühjahr 2008 im Supermarkt in Biedenkopf ein. Dieses Bild wird aber leider in wenigen Jahren endgültig Vergangenheit geworden sein.

Viele Kinder der letzten Trachtenträgerinnen haben ein eigentümliches Verhältnis zur Kleidung ihrer Mütter und Großmütter. Viele von ihnen konnten nach dem Tod ihrer Verwandten es gar nicht abwarten, die "ahle Lumpe" zu entsorgen, sei es in der Mülltonne oder im Altkleidersack; letzteres ist natürlich durchaus eine interessante Idee, da man sich Hilfsorganisationen die in afrikanischen Notregionen hessische Tracht verteilen eigentlich nicht so recht vorstellen möchte. Oder man wunderte sich, dass eigentlich wohlhabende Familien im Dorf ihre Großmutter immer noch in "alten Lumpen" herumlaufen ließen. Noch heute ernten Händler, die Trachtenteile aufkaufen, oft ein Kopfschütteln, werden aber insgeheim durchaus dafür bewundert, dass sie doch tatsächliche „Dumme“ finden, die ihnen dafür sogar noch mehr Geld zahlen. Viele Enkel aber denken bereits anders, und insbesondere Zugezogene wie ich selbst bedauern den Verlust an alten Originaltrachten außerordentlich.

Allerdings ist die Haltung der Älteren durchaus nachzuvollziehen. Für sie war alles Alte, das von ihren Eltern auf sie kam, eben einfach alt. Für jemanden, dessen Mutter oder Großmutter eine altertümliche Kleidung trägt, die um Jahrhunderte hinter der Mode herhinkt, unmodisch und zudem kaum sauber zu halten ist, trägt die alte Frau keine kulturhistorisch interessante Tracht, sondern schlicht die alte Wäsche "von der Oma". Die Nachkriegsgeneration riss ja auch bedenkenlos alte Häuser straßenweise ab und versteht oft bis heute nicht, warum eine angebliche Bruchbude nicht weg soll. In manchen Dörfern macht man sich bis heute Feinde, wenn man ein ererbtes altes Haus nicht sofort wegreißt, obwohl alle Nachbarn nur auf den Tod der alten Leute darin gewartet haben, damit der "Schandfleck" endlich verschwindet. Welcher unersetzliche kulturelle Schaden allerdings durch diesen Umgang mit verhasstem Altem inzwischen entstanden ist, braucht nicht weiter erläutert zu werden.

 

Zu den Besonderheiten im Umgang mit der Tracht gehörte dabei, dass diese quasi gereinigt wurde. Dazu trägt bei, dass im breiten Bewusstsein gar keine Kenntnis mehr darüber vorhanden ist, dass es die eine einzige Tracht einer Region gar nicht gab. Eine Trachtenträgerin hatte nicht eine Tracht in der Truhe, sondern die Stücke für ihre Jugendjahre in gut und alltäglich, Sonntage, Kirchgang bei Abendmahl und in evangelischen Gegenden an normalen Sonntagen ohne Abendmahl, die Jahre nach der Hochzeit, die verschiedenen Stufen der Trauer und der Arbeit, so z.B. für weiße Arbeit im Sommer auf der Wiese und dem Getreidefeld und schmutzige Arbeit im Stall und im Matsch, außerdem für das Alter und die Kirmes, und all das ergab ihre Kleidung, also ihre eine Tracht. Im Bewusstsein blieben nur die besonderen Trachtenstücke in bunt, weiß und rot, die zur Kirmes, die zum Kirchgang und dem Abendmahl und die Hochzeitstrachten, wo sie vorhanden waren. Die Arbeitstrachten aber verschwanden in der Versenkung. Sie wurden nicht mehr bei Festumzügen getragen, sie wurden nicht dokumentiert und sie wanderten zuerst in Mülltonnen und Kleidersäcke. Das, was die Kinder, die selbst nicht mehr in Tracht gekleidet wurden, als alt, stinkend und dreckig empfanden, sollte getilgt werden. Tracht schien nur noch aus Kirmes und Sonntagen bestanden zu haben, und auch das war wiederum durchaus verständlich. Tatsächlich haben viele Trachtenteile den Nachteil, dass man sie so gut wie nicht waschen kann. Nur die weiße Wäsche, also die Unterhemden und, wo sie überhaupt Teil der Tracht waren, Unterhosen, konnten nach heutigen Maßstäben gereinigt werden. Da aber z.B. in den Hinterländer Trachtengebieten Unterhosen erst sehr spät, ab etwa 1940, von einem Teil der Frauen getragen wurden, waren viele alte Originalröcke schlichtweg nur noch als hygienischer Müll zu bezeichnen und mussten folgerichtig entsorgt werden. Für die jungen Leute, die als erste in ihren Familien nie in ihrem Leben Tracht trugen und modernen hygienischen Maßstäben folgen konnten, musste die Tracht als rückständig, unhygienisch und vergessenswert erscheinen. Heute mag man das bedauern; aus der Sicht eines Menschen, der aus einem dunklen engen Haus mit Mitbewohnern in Kleidern, die man nicht waschen konnte, umziehen konnte in ein modernes neues Haus mit Bewohnern in Kleidung aus Baumwolle und ausgestattet mit einer Waschmaschine, konnte er nicht der Meinung sein, er habe kulturelle Reichtümer hinter sich gelassen.

 

So wird in Trachtengruppen heute eine teils merkwürdige Zusammenstellung verschiedener Teile der alten Tracht getragen, die so niemals vor 1970 zu sehen gewesen wäre, z.B. fehlt heute das früher generell vorhandene Wamst, das den Trachtentänzerinnen wohl zu warm ist, ebenso wie die Unterröcke aus dem selben Grund. Das schöne weiß gestickte Halstuch, das vor 1900 verschwand, wird zusammen mit dem ärmellosen Kirmeswamst, das erst im 20. Jh. auftaucht, zusammen getragen. Zwar wurde zeitweise die Tracht hemdsärmelig getragen, aber nie das Halstuch, sondern das Hemd, und nur zur Ernte auf dem Feld, und dann nicht mit der bestickten Kirmesschürze. Im Grunde genommen ist also eine ganz eigenständige neue Festkleidung entstanden, die sich  nur noch oberflächlich optisch an der alten Originaltracht orientiert, deren überlieferte Regeln aber bewusst außer Acht lässt. 

 

Aus heutiger Sicht von Außenstehenden und Nachgeborenen stellt sich die Tracht wieder anders dar. Sie ist als so gut wie abgeschlossenes Kapitel der Kostümgeschichte Europas Thema zahlreicher Publikationen, des wissenschaftlichen und zunehmend auch des öffentlichen und privaten Interesses. In einer immer globaler werdenden Welt entdecken junge Menschen die Trachten ihrer Region, egal ob sie von ihren eigenen Vorfahren getragen wurden oder nicht, als Teil einer selbst definierten Identität. So erfinden gerade Städte, deren Einwohner sich früher damit brüsteten, nie bäuerlich gekleidet gewesen zu sein, heute ihre angeblich historischen Trachten, meist völlig unsinnig und ohne echte Beschäftigung aus bekannten Trachten zusammengestückelte Kostüme. Höhepunkt dessen ist wohl die „slowenische Nationaltracht“, die nach der Unabhängigkeit von der Regierung Sloweniens bei einer Modedesignerin in Auftrag gegeben wurde. Und hier eröffnet sich ein anderer, ganz neuer Konflikt: Wie darf mit der überlieferten Tracht umgegangen werden? Immerhin ist die heutige individuell gefärbte Kleidungsgewohnheit völlig verschieden von den geradezu lesbaren Trachten der ländlichen Bevölkerung vergangener Zeiten. Interessante Beispiele dafür finden sich bereits in der Literatur, so in dem Standartwerk "Der Tracht treu geblieben". Die hier angeführten Philomena Pautz aus Mainz und Gerhild Imhoff aus Wiesbaden tragen nach ihrem eigenen Verständnis ebenfalls eine Art "hessische" Tracht, eigentlich aber nur einzelne, ohne Rücksicht auf alle tradierten Regeln zusammengestellte Teile bevorzugt der bunten Marburger katholischen Tracht. Ob das ein neuer Abschnitt der bisherigen Trachtengeschichte sein kann, soll hier nicht diskutiert werden. Ich möchte nur versuchen, die eigentliche Tracht mit ihren eigenen Regeln so weit es mir möglich ist schriftlich zu fixieren, bevor sie völlig der Beliebigkeit anheim fällt. Dabei berücksichtige ich durchaus die bisher erschienen teilweise sehr grundlegenden Werke, die ich nicht ersetzen, sondern eher zusammenfassen möchte, besonders „Der Tracht treu geblieben“ und „Die Frauentracht des Breidenbacher Grundes“. Insbesondere die schneiderischen Details, die von den Autorinnen bereits mit viel Akribie und Sachverstand zusammen getragen und dokumentiert wurden, habe ich bewusst nicht noch einmal übernommen.

 

 

2. Die Tracht in der Wahrnehmung eigentlicher Trachtenträgerinnen

 

Wie anders Trachtenträgerinnen sich selbst und ihre Tracht wahrnahmen, möchte ich zunächst anhand einer Trachtenträgerin aus Wallau, Frau Katharina Benner, geborene Donges, geboren 1910, verstorben 2004, deutlich machen. Frau Benner sagte über sich selbst als Trachtenträgerin, sie sei so angezogen wie ihre Mutter (Katharina Donges, 1882 – 1967) und Großmutter (Katharina Schneider, geboren 1861, gestorben 1928) und ihre Urgroßmutter (Anna Elisabeth Weber, geboren 1843, gestorben 1932) auch.  Nun könnte man schnell daraus ableiten, dass die Tracht während dieser vier Generationen keinerlei wahrnehmbarer Veränderung unterworfen gewesen sei. Aber genau das trifft absolut nicht zu. Gerade in der benannten Zeit vollzogen sich deutlichste und von niemandem zu übersehende Veränderungen der gesamten Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes. Die Großmutter von Katharina Benner, Katharina Schneider, trug noch die volle Tracht des 19. Jahrhunderts, an Feiertagen mit Bruststecker, im Alltag immer mit Stilpchen.  Nun wurden aber die Stilpchen aus hygienischen Gründen in Breidenbach bereits 1889, in Wallau 1898 von den Pfarrern für die Konfirmandinnen verboten, woraufhin die jüngeren Trachtenträgerinnen größtenteils die Stilpchen ablegten, nur die älteren Trägerinnen behielten sie bis zu ihrem Tode bei. Die Bruststecker verschwanden schon früher, gegen Ende des 19. Jhs., bei den jüngeren Trägerinnen. Letzte Bilder alter Frauen mit Bruststecker datieren alle aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.  Also bot sich Katharina Benner in ihrer Kindheit folgender Anblick: Ihre Großmutter trug noch Bruststecker und Stilpchen, ihre Mutter noch das Stilpchen, sie selbst aber weder Bruststecker noch Stilpchen. Diese drei trugen wohl bereits Büffel, also dicke Unterröcke aus einem „Büffel“ genannten geköperten Wollstoff, mit weißen Leinenträgern, die Urgroßmutter Anna Elisabeth Weber aber sicher noch den langen durchgehenden Büffel. Urgroßmutter und Großmutter werden noch grüne Wämster mit roten, grünen oder schwarzen Doppelreihen von Knöpfen getragen haben, die beiden jüngeren Frauen bereits die blauen des 20. Jahrhunderts mit einer Knopfreihe. Wie auch in „Der Tracht treu geblieben“ beschrieben, trugen schon in ganzen Dörfern keine der um 1910 geborenen Frauen mehr grüne Wämster, während zeitgleich ältere Jahrgänge im selben Dorf diese noch trugen (S. 141). Von einer optisch einheitlichen Tracht kann also beim besten Willen nicht gesprochen werden. Katharina verarbeitete sogar im Zweiten Weltkrieg die im Hause befindlichen Stilpchen, für die sie zeitlebens keine Verwendung hatte, zu Hausschuhen. Aber auch innerhalb ihres eigenen Lebens änderte sich die Tracht in Wallau. Katharina trug das Rosentuch als junge Frau noch gewickelt, auf Bildern ab etwa 1940 aber wie alle jungen Frauen herunterhängend oder mit den Zipfeln in den Schürzenbund gesteckt. Als junge Frau trug sie noch das geschnürte Mieder über dem Wamst, später das Wamst über dem Mieder und noch später an den Rock angenähte Jacken, die das Schnürmieder ersetzten. Offensichtlich war solcher Umgang mit der Tracht den Trägerinnen durchaus freigestellt. Tracht ist daher als zementierte Kleiderordnung gesehen falsch verstanden.

 

Dieses Beispiel zeigt überdeutlich, dass in der Wahrnehmung der eigentlichen Trachtenträgerinnen die Tracht als solches ganz anders gesehen wurde, als von den meisten heutigen Trachtenbegeisterten. Die ländliche Kleidung war modischen Neuerungen jeder Generation unterworfen wie die städtische Kleidung auch. Der Gegensatz hieß auch nicht "Tracht" und "Nicht-Tracht", sondern "kurze" und "lange" Kleidung, wobei aufgrund der Rocklängen "kurz" für die Tracht, "lang" für städtische Kleidung stand. Der Begriff „Tracht“ taucht im Vokabular der alten Trachtenträgerinnen nicht auf. „Tracht“ war schon immer ein Begriff der Außenstehenden. Im eigenen Dialekt waren die Trachtenträgerinnen in ihrer Selbstbezeichnung „Kiwwelcher“, eine dialektale Bezeichnung für das Stilpchen, auch in den Zeiten, als längst keine Kiwwelcher (Stilpchen) mehr getragen wurden. Man trug als Kiwwelche (Trachtenträgerin) eben die kurze Kleidung des eigenen Dorfes, war aber durchaus frei, in jeder Generation Anpassungen und Veränderungen daran durchzuführen, wie auch einzelne Trägerinnen die Kleidungsstücke ihren Bedürfnis anpassten und modifizierten, solange ein einheitlicher Eindruck gewahrt blieb. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung spielte auch Geld durchaus eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der persönlichen Ausformung der Tracht, was allerdings so sehr in Details versteckt wurde, dass ein Außenstehender diese Unterschiede niemals hätte bemerken können.

 

Solche Veränderungen waren auch durchaus notwendig. So warf das Verbot der Stilpchen in den 1890er Jahren durch Pfarrer und Lehrer das gesamte feinabgestimmte Gefüge der einzelnen Trachtenteile durcheinander, die zusammen einen für die Einheimischen genau zu lesenden Dresscode, eine Übermittlung von Personeninformationen in der Kleidung, ergeben hatten. Ursula Ewig vermutet, dass das Verschwinden der Stilpchen und Bruststecker sogar zur Ausbildung neuer Trachtenteile führte, nämlich zu den, im 19. Jh. nicht belegten, ärmellosen Wämstern zur Kirmes- und zur Erntetracht, die unter der Schnürung des Mieders getragen, sowohl die Bruststecker ersetzten als auch in gewissen Grenzen Farbinformationen der Stilpchen wiedergaben. Denn Trachten waren immer mehr als pure Kleidung. In der Sicht heutiger Menschen, denen nichts über Selbstbestimmung und Individualismus geht, waren Trachten einengende vorgeschriebene Zwangsmoden, die den einzelnen in seiner freien Entfaltung hinderten. Tatsächlich trug man die Tracht, in die man geboren war; nur dass in der Wahrnehmung vergangener Zeiten daraus folgte, dass man eine bestimmte Tracht tragen durfte, nicht musste. So durften weder zugeheiratete Frauen, Pfarrers- oder Lehrersfrauen oder -töchter die Tracht ihres neuen Wohnortes tragen, Trachtenträgerinnen aus anderen Trachtengebieten trugen weiter ihre Heimattracht; auch durften Kinder in der Endphase der Tracht nicht bestimmen, ob sie lang oder kurz gekleidet sein wollten; wer von den Eltern kurz angezogen wurde, blieb oft dabei, wer lange Kleidung erhielt, trug niemals im Leben Tracht. Das galt sogar für Männer. So wurde noch in den 30er Jahren ein letzter Junge in Wallau aus Gründen der Armut in Kittel gekleidet und konnte sich erst zur Konfirmation umziehen zur modernen städtischen Kleidung.

 

Echte „Kiwwelcher“ hätten große Probleme damit gehabt, junge Frauen bei Trachtenumzügen zu sehen, die nicht als Kinder kurz angezogen worden waren, sondern nur zu bestimmten Anlässen, vielleicht sogar noch falsch kombinierte, Trachtenstücke trugen. Trachtenträgerinnen trugen im 20. Jh. ihre Tracht nur dann nicht, wenn sie ihren eigenen Lebensradius verließen. In Frankfurt z.B. oder bei Besuchen bei Verwandtschaft in der Wetterau hätte man niemals die eigene Tracht zur Schau getragen. Üblicherweise hatte jedes Kiwwelche dafür eigens ein modernes Kleid im Schrank. Erkennbar blieben sie trotzdem, gehörte zur Tracht doch entgegen allen Moden lange Haare, die zu sehr eigenen Haarmoden getragen wurde, seien es zwei Zöpfe oder zum  Kranz gelegt.  

 

Auch erfolgte das so genannte "Umziehen", also der endgültige Wechsel von der kurzen zur langen Kleidung, praktisch immer zu Zeitpunkten, zu denen man innerhalb der Tracht die Farbe gewechselt hätte, also zur Konfirmation oder Erstkommunion, zur Hochzeit, im Trauerfall oder wenn man aufs Altenteil ging. Ein solcher Wechsel war immer endgültig, eine "Umgezogene" hätte niemals wieder ein "kurzes" Kleidungsstück angelegt, erst recht nicht zu einem Festzug oder Trachtentag.

 

Tracht war eben Teil der Identität. Man wollte sich abgrenzen. So übernahmen die Marburger Protestanten im Ebsdorfer Grund beginnend um 1800 die Tracht der benachbarten katholischen Amöneburger. Kennzeichen dafür sind die für den Grund typischen sehr alten grün eingefassten Stilpchen, die sowohl die Urform der Marburger Stilpchen als auch der Marburger Schleier wurden. Daraufhin veränderten die Katholiken ihre eigene Tracht nach modischen Einflüssen ihrer städtischen Vorbilder in Marburg. Deutlich wird das z.B. an dem katholischen Halstuch, das über der Brust gekreuzt und hinter dem Rücken gebunden wird, wie weiße Tücher aus Seide oder feinem Leinen zur Zeit Ludwigs XVI. und der Revolutionszeit in Frankreich, allerdings völlig unstädtisch gestrickt und bunt bestickt.  (Die Trachten der bäuerlichen Bevölkerung gelten ja schon seit Hottenroth als ideales Beispiel für „gesunkenes Kulturgut“, also als quasi verwilderte städtische Kleidung, was aber nur bedingt richtig ist. Zwar erinnern z.B. die Haubenformen der Stilpchen im Untergericht durchaus an gotische Haubenformen oder an Renaissancehauben städtischer Damen, aber die Hemdschnitte, die ganz eigenständige Art der Verzierung und der völlig freie Umgang mit dem in der Stadt gesehenen machen überall Trachten zu einer ganz und gar eigenständigen Kulturleistung der ländlichen Bevölkerung.) Die Protestanten hatten zuvor beiderseits der Lahn bis an die Schwalm heran die so genannte "Dellmutschentracht", heute nur noch im östlichen Hinterland belegt, getragen, die fast vollständig schwarz war, eine Übernahme der Theologie der Reformationszeit. Noch Landau verzeichnet 1842 im Marburger Umland rechts der Lahn ganz überwiegend die, wie er schreibt, "schwarze Kleidung", also die Dellmutschentracht, die in seiner Beschreibung auch aufgrund der Erwähnung eines "eigenthümlich geformten, gleichsam zwiefachen Häubchens" genau identifiziert werden kann. (S. 368) Sie wurde also ursprünglich auch außerhalb des Hinterlandes getragen. Tracht war also nicht unbedingt an Landesgrenzen orientiert. Justi geht zwar davon aus, dass es sich hierbei um die Schneppekappentracht des Amtes Blankenstein handelte, allerdings kann die Schneppekapp nicht als zwiefaches Häubchen definiert werden, die Dellmutsche aber sehr wohl. Bilder aus dem frühen 19. Jahrhundert belegen beide Haubenformen, teilweise im gleichen Dorf, wie auf einem Bild von L. E. Grimm, für Gosfelden 1829 (Die Frauentracht des alten Amtes Biedenkopf, S. 48 gegenüber). Allerdings waren die Lutheraner in der Schwalm und im Breitenbacher Grund schon zu dieser Zeit bunt gekleidet. Wahrscheinlich trug das direkte Aufeinandertreffen der Konfessionen, noch dazu in einer Region, die für die Reformation so wichtig war, zu der langen farblichen Unterscheidung, wie sie eigentlich für das 16. und 17. Jahrhundert typisch war, ganz maßgeblich bei. Möglicherweise unterschieden sich auch die Lutheraner im Breidenbacher Grund und der Schwalm wiederum von den ihnen benachbarten schwarz gekleideten Reformierten im, dem Hinterland benachbarten, Wittgenstein und den Trägerinnen der schwarzen Spitzbetzeltracht der evangelischen Dörfer Hessen-Kassels nördlich der Schwalm. Die Lutheraner wollten sich sicherlich von den bei ihnen nicht gerade beliebten Reformierten absetzen, hatte doch z.B. die kurze reformierte Episode (ab 1604) in Wallau 1624 mit dem Aus-dem-Dorf-Prügeln des Pfarrers Celarius geendet.

 

Das Buch „Der Tracht treu geblieben“ ist eine ungemein wichtige Quelle, da hier zum letzten möglichen Mal die Anstrengung unternommen wurde, noch lebende Trachtenträgerinnen zu interviewen und ihre individuellen Kleidungsgewohnheiten aufzuzeichnen. Liest man das Buch in seiner Summe, so stellt sich heraus, dass die einzelnen Trägerinnen durchaus ihren individuellen Stil hatten und durchaus selbstbewusst ihre Kleidung zusammenstellten. Da finden sich neue Stoffe und vereinfachte Arbeitsweisen, und häufig als Grund für Veränderungen das Bewusstsein, dass die alte Kleidung einfach im Alter zu schwer oder zu unpraktisch wurde, oder dass einfach ein neues erweitertes Stoffangebot genutzt wurde.

Auch Bilder des 19. Jhs. zeigen bei genauer Betrachtung durchaus erkennbare Unterschiede in den einzelnen Kleidungsweisen, weshalb auch schon Justi die einzelnen Trägerinnen namentlich kenntlich machte. So zeigt das bereits erwähnte Bild von L. E. Grimm zwei Mädchen in aus heutiger Sicht „echter Tracht“, dazu aber ein Mädchen mit einer Schneppekapp, die eigentlich in ein modisches Biedermeierkleid gekleidet ist, aber wiederum mit über dem Kleid geschnürten Mieder und einer Schürze mit breitem Schürzenband. Aus heutiger Sicht wäre eine solche Mischung der Kleidungsweisen unmöglich. Andererseits wurden einige angebliche Unterscheidungsmerkmale wohl gar nicht als solche verwendet. So ist oft zu hören, die Zahl der Bommeln an den Strumpfbändern der Untergerichtstracht habe die Unterscheidung reicherer und ärmerer Heiratskandidatinnen ermöglicht. Das war den alten Trägerinnen so aber unbekannt, außerdem fehlen Strumpfbänder mit deutlich mehr oder weniger Bommeln als der Durchschnitt, 6 bzw. 8 pro Seite, völlig.

 

 

3. Die Tracht in der zu ihr zeitgenössischen Literatur und Bildern

 

Die Trachten des Hinterlandes waren schon im 19. Jh. im Zuge der Beschäftigung mit dem eigenen nationalen Erbe Gegenstand der Beschäftigung gebildeter Kreise, die aber naturgemäß völlig außenstehend über eine interessante, ihnen aber absolut fremd bleibende Kultur und ihre Kleidung schrieben und nicht selten urteilten. Van Embde schuf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Genrebilder, die auch Trachten des Hinterlandes zeigten, aber nicht immer sicher als Quelle zu beurteilen sind, da sie durchaus künstlerisch frei behandelt wurden, wenn auch nicht so frei wie von Zeitgenossen van Embdes, wie Jakob Fürchtegott Dielmann, von dessen, in historischer Hinsicht nur als merkwürdig zu bezeichnenden, Bildern ein schönes Beispiel bei Ursula Ewig S. 81 zu finden ist. Die Literatur beschäftigt sich mit den Trachten des Hinterlandes seit 1842 in der Beschreibung des Herzogtums Nassau von Landau, in der eine gute Beschreibung der Tracht des Amtes Biedenkopf, der Dellmutschentracht enthalten ist, gefolgt 1847 von Dullers Werk über "Das deutsche Volk", in dem er auch den Zug der Hessen anlässlich der Errichtung der Ludwigssäule in Darmstadt und darin die Trachten des Breidenbacher Grundes und des Amtes Biedenkopf beschrieb. Zuvor berichteten nur Reisende von den, in ihren Augen unansehnlichen weil altmodischen, Trachten im Hinterland. Duller aber beschreibt die Festtagstrachten der vorbeidefilierenden Hinterländerinnen als farbenfroh und schön, als "origineller" als die übrigen Trachten des Ehrenzuges. Interessant ist noch, was genau er beschreibt (S. 274): Das Stilpchen der Tracht des Untergerichts beschreibt er als rot, das Halstuch als schwarz, ein langes buntes Bruststück mit Schleifen und gelbe Strümpfe. Dazu beschreibt er ebenso wie der Künstler Nebel, der die Trachten des Zuges auf einem Einzelblatt abbildete, an den Füßen der Breidenbacherinnen noch die barocken Schuhe mit hohem Absatz und Schnallen, die heute als ausschließlich typisch für die Schwalm gelten. Allerdings verschwanden diese im Hinterland schon bald und wurden ausgetauscht gegen hohe Schnürstiefeletten  mit roten Laschen. Leider würde eine solche Tracht heute wohl von keinem Trachtenverein des Hinterlandes mehr als „echt“, also authentisch angesehen. Allerdings ist eine solche Beschreibung durchaus glaubwürdig und ausgesprochen wichtig, hat Duller doch kein Interesse an einer verfälschenden Darstellung. So weisen die schwarzen Halstücher deutlich hin auf eine im 20. Jh. nicht mehr verwendete Form, die aber in den sehr selten belegten Freude-Leid-Tüchern, die auch auf schwarzer Seide gestickt wurden, noch nachweisbar ist.  Interessant sind auch die gelben Strümpfe, die offensichtlich gekauft waren, da Gelb eine sehr teure Stofffarbe war. Bleibt nur die Frage, in wie weit diese zu einem Festzug getragenen Trachten tatsächlich eine echte Alltagstracht wiedergeben. Man kann wohl annehmen, dass zu einem solchen Anlass nicht die bereits länger in Gebrauch befindlichen Kleider getragen wurden, vielleicht wurden sogar Trachtenteile wie die Strümpfe von der Staatskasse oder den lokalen Adelsfamilien zu Ehren des Festtages spendiert. Besonders auffällig ist das in Bezug auf die Kleidung der Männer. Sie sind auf dem Einzelblatt, das die wichtigsten Trachten des Umzuges wiedergibt, deutlich städtischer gekleidet als Männer auf viel späteren Photoaufnahmen aus den 30er Jahren des 20. Jh., die noch Kittel tragen, während zum Festzug 1844 lange Mäntel und runde Hüte, nur noch in einem Fall scheinbar ein Dreispitz, vorgeführt wurden.   

 

Die Trachten gezielt, nicht nur als kurzen Augenschein, beschreibende zeitgenössische Literatur insbesondere um 1900 hat zwei wesentliche Probleme: Keiner der Autoren im 19. Jh. kannte die Tracht wirklich aus eigener Anschauung, vor allem nicht über längere Zeit und als Alltagskleidung, da niemand, der sie beschrieb, aus den Trachtengebieten stammte. Lediglich Justi, der in den 1860er Jahren Professor für Orientalistik in Marburg wurde, kannte die Region, deren Trachten er 1905 im „Hessischen Trachtenbuch“ veröffentlichte, aus eigener mehrjähriger Anschauung. Gereist wurde aber im Hinterland viel. Selbst der eigentlich für Szenen aus dem bäuerlichen Bayern bekannte Maler Franz von Defregger kam 1867 durch Wallau, wie eine im Kunsthandel versteigerte Skizze der Wallauer Kirche beweist. Im 19. Jh. gehörte es für Maler zum guten Ton, in ihrer Ausbildung gereist und weit herum gekommen zu sein. Allerdings dienten die Reisen dem Sammeln von Skizzen und der Verbesserung der eigenen Maltechnik, längere Aufenthalte kamen kaum vor und ethnologische Untersuchungen waren nicht ihr eigentlicher Sinn; daher entstanden auch oft eher oberflächliche Bildthemen, nämlich Genreszenen. Lediglich die Künstlerkolonie in Willingshausen in der Schwalm konnte sich über eine längere Zeit mit einer einheitlichen vollständigen Tracht beschäftigen, was im Bewusstsein mancher heutiger Zeitgenossen die Schwalm als Repräsentant der hessischen Tracht schlechthin erscheinen lässt. So wurde ich schon belehrt, als Hesse müsse ich doch die „Schwälmertracht“ tragen, „schwälmer“ scheinbar als hessisches Adjektiv aus dem Dialekt missverstanden.  

Zwar reisten Kretschmer und Hottenroth tatsächlich auch, aber sie blieben nie lange in einem Gebiet und waren in ihren Bildkompositionen Künstler ihrer Zeit, sie malten gestellte Szenen. Mehrfach tauchen Frauen in Sonntagstracht auf Feldern bei der Arbeit auf, was völlig unhistorisch ist und sicherlich bei den Dargestellten während die Skizzen entstanden für Amüsement gesorgt haben dürfte. Berühmt ist z.B. Tafel 47 bei Kretschmer, auf der eine Bäuerin im Schwarzwälder Gutachtal mit rotem Bollenhut, also absoluter Sonntagstracht, mit einem Rechen auf der gemähten Wiese herumläuft, während eine andere einen Heuballen schnürt, sichtbar bemüht, die gute Kleidung nicht schmutzig zu machen. Dasselbe gilt für ein Bild mit Untergerichtstrachten in den „Nassauischen Volkstrachten“ von Hottenroth, auf dem eine Frau in weißer Tracht und eine in grünem Sonntagswamst Heu machen.

Allerdings existieren auch außergewöhnlich genaue Skizzen eines solchen reisenden Malers, nämlich von Rudolf Koch (* 19. Oktober 1856 in Pößneck, † 27. Oktober 1921 in Frankfurt/M.; nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Kalligraphen und Schriftkünstler * 20. November 1876 in Nürnberg, † 9. April 1934 in Offenbach). Dieser heute fast unbeachtete Künstler fertigte um 1897 auch im Biedenköpfer Umland und speziell in Wallau ganz bemerkenswert exakte Zeichnungen verschiedener Frauen in Orts- und Situationstracht an, die als Quellen der Tracht vor 1900 gar nicht zu überschätzen sind. Koch reiste viel, fertigte Skizzen an, die er nach dem Leben malte, wie er schrieb, um sie in Zeitschriften wie „Über Land und Meer“ oder „Kleine Presse“ zu veröffentlichen. Besonders wertvoll machen seine Zeichnungen die beigefügten Notizen. Da er oft nur in Bleistift skizzieren konnte, notierte er z.B. exakt die Farben, also sind keine Veränderungen der Information durch Alterung und Verbleichen zu befürchten. Interessant ist auch, dass offensichtlich bestimmte Frauen mehreren Malern als Model zur Verfügung standen, so z.B. eine Rosina 1897 bei Koch, die wahrscheinlich die Rosina Achenbach ist, die 1900 Justi mit rotem Bruststecker malte.  

Koch zeichnete mit dem Auge des an der Tracht als Teil der Volkskunde interessierten Beobachters. Seine detailgenauen Zeichnungen geben oft mehr Einzelheiten wieder, als durchschnittliche Photographien zeigen könnten. So zeigt eine Zeichnung, wahrscheinlich auch der Rosina Achenbach, eine Variante, wie der Bruststecker auch getragen werden konnte, nämlich nicht unter der Schnürung des Mieders, sondern in den Schürzenbund gesteckt; unter der Schnürung hätte die aufgenähte Schleife sich auch nicht wirklich entfalten können. Offensichtlich wurden aus diesem Grund die Bruststecker des Breidenbacher Grundes Untergerichts nicht allzu alt, da die Pappe im Bruststecker nicht sehr lange ungeknickt blieben konnte und der Bruststecker damit unbrauchbar geworden war. Übrigens ist auch die Form des Bruststeckers bemerkenswert, entspricht seine Form doch nicht exakt der, die als typisch für das Untergericht gilt. Sein oberer Rand ist lediglich sanft geschweift und mit einer Art Borte besetzt.

Allerdings ist Koch doch ein Außenstehender, weshalb ihm in der Begrifflichkeit doch schwere Fehler unterlaufen. So verzeichnet er zu dem Blatt der Rosina. „Gewöhnlicher sommerlicher Kirmessen-Anzug, auch beim Tanz getragen nur fehlt dann das um den Hals geschlungene Tuch. Die weißen Hemdärmel, wiederum „Halstuch“ genannt, werden gesondert vom Hemd angezogen. Zu beachten die nur auf der Herzseite befindlichen Knöpfe auf dem „Büffel“, dessen Leibchen bis oben hinauf und dessen Achselbänder den schwarzen Rock tragen. Die Schuhe sind mit schmalen rothen Ledervorstoß versehen. Protestantisch.“ (Seim/Becker S. 80 Nr. 14) Allerdings hatte ein Büffel, der Unterrock, niemals Knöpfe, Rosina hätte wohl auch kaum in Unterwäsche Model gesessen. Koch verwechselt offensichtlich Büffel und Wamst. 

Besonders problematisch ist die häufige Ungenauigkeit in der Darstellung hinsichtlich der Männerkleidung. Justi benennt die von ihm abgebildeten Personen mit Angabe ihres Ortes. Daraus entstand leider oft der Eindruck, die Männertrachten der einzelnen Orte seien ähnlich kleinteilig gegliedert gewesen wie die Trachten der Frauen, obwohl einfach verschiedene Männer zu verschiedenen Anlässen ihre Kleidung trugen, die in ganz Hessen üblich war. Ebenso missverständlich sind die häufigen Postkarten mit Trachtenmotiven, die von Malern in den Produktionsstätten, also fernab der Trachtenträgerinnen, das malten, was sie auf Bildern erkennen konnten. Kaum ein Kartenmaler verstand z.B. die Strumpfbänder der Hinterländerinnen.

Andererseits existieren Bilddenkmäler von gar nicht überschätzbarer Bedeutung, wie das Einzelblatt mit den Darstellungen der 1844 zu sehenden Trachten bei dem Festzug zu Ehren der Einweihung des „Langen Ludwig“ in Darmstadt, den Duller beschreibt. Das Bildblatt „Der Bauernstand des Großherzogtums Hessen bei der Enthüllung des LUDEWIG MONUMENTES in Darmstadt am 25ten August 1844“ von Friedrich Joseph Adolph Nebel existiert zurzeit nur noch in zwei bekannten Exemplaren in Biedenkopf und Gießen, das Gießener davon koloriert. Dieses Blatt ist eine ganz ungewöhnliche Quelle gerade für die Tracht des Untergerichts. Bearbeitet wurde das Biedenköpfer Blatt im Band 8 der Sammlung zur Volkskunde in Hessen von Gerd J. Grein, das kolorierte in der, wenn auch teilweise zu persönliche argumentierenden, fachlich aber ausgesprochen guten Inauguraldissertation von Hans Deibel „Kleidung nach Landes-Brauch“. Auf der kolorierten Darstellung erkennt man die einzige Frau aus dem Untergericht bekleidet mit einem grünen Wamst, einem schwarzen Rock, einer blauen Schürze, schwarzen Schnallenschuhen, einem schwarzen Halstuch und anders als bei Duller beschrieben mit wahrscheinlich weißen Strümpfen. Die Strumpfbänder sind grün und rot wiedergegeben. Auf der Brust prangt ein überaus bunt hervorstechender Bruststecker mit einer Schleife.

Einige Details aber werden in dem nicht kolorierten Biedenköpfer Druck deutlicher. So ist das Tuch um den Hals noch recht klein und hinter dem Hals geknotet, der Rock entgegen der späteren Trageweise rundum plissiert, auch unter der Schürze; die Schürze selbst wird locker vorne durchhängend getragen und hinter dem Rücken geknotet. Die Schnürung des Mieders ist sehr tief angesetzt, deutlich tiefer als bei der Frau aus dem Obergericht die direkt daneben steht, und sie ist als besonderer Unterschied kreuzweise über dem Bruststecker geschnürt, nicht im Zickzack wie bei der Trägerin der Obergerichtstracht. Auch hat der Bruststecker noch nicht den halbrund ausgeschnittenen oberen Rand. Das rote mit schwarzem Band eingefasste Stilpchen hat noch einen sehr kleinen, kaum überstehenden Deckel.

Man könnte argumentieren, die Darstellung sei nicht allzu genau, allerdings sind die Trachten des Obergerichts und die schwer zu zeichnenden Schneppekappen und Dellmutschen sehr gut und treffend wiedergegeben. Es gibt also keinen Grund an der Darstellung ausgerechnet der Tracht aus dem Untergericht zu zweifeln.

 

Auch die frühesten Photographien sind lediglich gestellte Aufnahmen mit unhandlichen Apparaten. Generell sind photographische Aufnahmen, obwohl eindeutig echte Zeitzeugen, durchaus kritisch zu benutzen. So existieren gerade von den Trachten des Hinterlandes aus dem 19. Jh. fast keine Aufnahmen, die nicht vom Photographen gestellt wurden, und zwar absolut in ihrer Zeit so beabsichtig. So findet sich in dem hervorragenden Buch „Der Tracht treu geblieben“ auf Seite 130 ein Bild einer Schulklasse aus Roth von 1890, auf der nahezu alle Mädchen die Tracht des Breidenbacher Grundes mit einem weißen Wamst tragen, nur einige wenige mit einem Wamst (im Hinterland wird die Jacke oder Motzen so genannt) in blau oder grün, was auf der schwarzweißen Aufnahme nicht sicher zu bestimmen ist. Dasselbe gilt für die allermeisten Aufnahmen aus dem 19. Jh., das weiße Wamst für Sonntage und „gute“ Anlässe überwiegt. Aus diesem Grund werden bis heute in Trachtengruppen des Hinterlandes ganz überwiegend weiße Jacken getragen. Dabei sollte bedacht werden, dass solche Termine mit einem Photographen z. B. in einer Dorfschule niemals Zufallsbilder sein können, sondern ganz offensichtlich angekündigte und geplante Aufnahmen darstellen. Das aber bedeutet ganz schlicht, dass die Kinder eben nicht in Alltagskleidung, sondern in Festtagstracht in der Schule erschienen. Die weißen Jacken sind also aus den erhaltenen Bildern eben nicht als die Alltagskleidung abzuleiten. Offensichtlich hatten aber nicht alle Mädchen auch eine gute weiße Jacke, sondern mussten in Alltagskleidung erscheinen. Vielleicht besaßen arme Familien gar keine Wämster aus teurer weißer Wolle für die Kinder vor der Konfirmation.  Diese wenigen Kinder sind also wohl als eigentliche Abbildung der gewöhnlichen Tracht anzusehen. Der Heimatverein in Wallau besitzt eine ganz ungewöhnliche Aufnahme einer Frau am Spinnrad in einem gekrette Ern, dem mit Lahnsteinen ausgelegten Flur eines Hauses. Das Bild zeigt nicht nur ein ganz einzigartiges Beispiel von Teilen einer Ern-Einrichtung, sondern auch eine eindeutig in Alltagstracht gekleidete Hinterländerin aus dem Breidenbacher Grund. Ähnlich wichtig ist das Bild eines hornblasenden Schweinehirten aus Wallau. Wer einmal eine Kamera gesehen hat, wie sie um 1900 gebräuchlich waren, rechnet ja auch nicht mit Schnappschüssen, sondern ist eher erstaunt über die Existenz solcher unvermutet lebensnaher Szenen.

 

Auch die häufigen photographischen Postkarten mit Trachtenmotiven sind als Bildquellen nicht zu unterschätzen, aber auch grundsätzlich mit dem kritischen Gedanken im Hinterkopf, dass es sich eben um Postkarten und keine Aufnahmen aus dem Leben handelt. Deibel bezeichnet solche gestellten Bilder durchaus richtig als „Fakelore“, also gefälschte (englisch „fake“) Folklore.

Interessant ist aber auch hier oft, was nicht auf dem Bild ist; unverhofft zahlreich sind die Bilder, die interessantere Rückschlüsse zulassen als die reine Analyse dessen, was dargestellt ist. So z.B. auf der Karte zweier Mädchen in Marburger katholischer Tracht. Offensichtlich tragen sie ihre persönliche Kleidung, nicht nach dem Geschmack des städtischen Photographen zusammengestellt. Eine trägt noch die rote Kappe, die andere bereits ein Kopftuch, dieses aber auch in rot. Dieses Bild lässt also deutlich darauf schließen, dass das Verschwinden eines Details einer Tracht Ersatz nötig machte, der aber durchaus die Farbensystematik weiterführte. Wie schwierig aber solche handkolorierten Karten tatsächlich sind zeigen die beiden Bilder junger Mädchen in Marburger evangelischer Tracht. Obwohl beide aus in etwa der selben Zeit stammen, tragen auf dem einen alle Mädchen noch die ältere Stilpchenform mit roten einfassenden Bändern, auf dem anderen alle die spätere Form mit schwarzen Einfassungsbändern. Tatsächlich ist aber die Karte mit der älteren Stilpchenform die deutlich jüngere. Möglicherweise überlebten die älteren Stilpchen in einigen Dörfern länger als in anderen, vielleicht wurden die Motive der Postkarten aber auch schlicht sehr lange aufgelegt und sind gar nicht mehr Zeugen der „aktuellen“ Trageweise in den Dörfern um Marburg.  Datierungen bestimmter Trageweisen sind anhand solcher Bilder aber nur sehr, sehr vorsichtig fest zu machen.

Immer muss beachtet werden, aus welchem Grund sich Schreiber und Künstler im 19. Jh. mit der Kleidung der ländlichen Bevölkerung beschäftigten. Für Landau ist es ein winziges Nebenthema, das er nur streift, um die Landbevölkerung als stolze Bauern und der Scholle verwurzelt zu kennzeichnen. Kretschmer und Hottenroth schrieben in erster Linie mit den Augen gebildeter Städter, die „Typisches“ aufzeigen wollten, Kretschmer mit dem Auge des an Bühnenausstattungen geschulten Künstlers. Ihm unterliefen deshalb überaus deutliche Fehler in seinen Bildern, die auch Justi zeigt, wie die Darstellung von Festtagstrachten an Trägerinnen, die dem Bild nach eindeutig bei der Arbeit sind. So zeigt auch Justis Bild von Gretchen Schneider aus Breidenbach (Blatt XI) die junge Frau mit grüner Sonntagsjacke und einem mit Glaskopfnadeln festgesteckten und nicht geknoteten Schürzenband auf einer Wiese mit einem Rechen in der Hand. Das Bild ist offensichtlich gestellt, denn Gretchen müsste gekleidet sein wie die zweite Frau auf dem Bild, die aber in der weißen Kleidung für die weiße Arbeit Heumachen nur im Hintergrund und mit dem Rücken zum Betrachter aufgestellt ist. Gretchen wäre in ihrer Kleidung am Sonntag in die Kirche, vielleicht auch zum Kaffeetrinken gegangen, oder zum Spaziergang, aber bestimmt nicht auf die Wiese zum Heumachen. Unkritisch übernommen taugt das Bild also nicht zum Zeitzeugnis, mit offenen Augen betrachtet aber durchaus, zeigt es doch zwei echte Kleidungsweisen der Tracht des Breidenbacher Grundes Untergericht, die durch den Bildaufbau Betonte dabei allerdings schlicht im falschen Zusammenhang. Auf späteren Photographien waschen Frauen in Sonntagstracht Wäsche oder tragen Brotkörbe auf dem Kopf, obwohl alle Frauen auf dem Bild ihr Stilpchen dabei haben, das die Korbträgerinnen in der Hand halten, um Platz auf dem Kopf zu bekommen. Bilder wurden eben sonntags gemacht, oder die Frauen kleideten sich eben festlich, wenn mal der Photograph kam. Das macht die Bilder nicht wertlos, sondern darf in ihrer Verwertung einfach nicht vergessen werden. Die Szenen sind nur allzu oft Fakelore, die rückzuschließenden Details aber sprechen auch aus sich heraus, wenn man nur kritisch an die Bilder herangeht.

 

 

4. Die Bestandteile der Hinterländer Frauentrachten des Breidenbacher Grundes im Zeitenwandel

 

Behandelt man die Hinterländer Frauentrachten in ihren Einzelstücken, dann muss deutlich dazu gesagt werden, die Tracht welcher Zeit gemeint ist. Häufig wird die bei der eigenen Großmutter noch beobachtete Form als die für alle Zeiten gültige angesehen, aber wie oben bereits angeführt stimmt das nicht einmal ansatzweise.

Die Beschreibung von Trachten ist erst sinnvoll ab dem 19. Jh., da zuvor im beschriebenen Raum keine nachweisbaren Trachtenbilder existieren. Auffällig ist, dass auf den sehr häufigen Grabsteinen des Marburger Umlandes mit Darstellungen einer Familie unter dem Kreuz die späteren Trachten bis ins 18. Jh. nicht zu finden sind. Lediglich auf einem einzigen Stein in Diedenshausen stehen eindeutig Frauen mit Dellmutschen, der Stein stammt aus der zeit um 1740. Dagegen sind die Kleidungsformen auf diesen Steinen im 17. und im 18. Jh. auffallend ähnlich, die ländliche Kleidungsform bleibt augenscheinlich deutlich hinter der städtischen Entwicklung zurück. Mit der späteren Tracht haben nur die Schürzen zu tun, die im 17. Jh. aus den städtischen Moden verschwinden (außer bei Mägden und Angehörigen von Berufen, für die Schürzen sinnvoll waren), sowie auf mehreren Steinen die auffälligen Trauermäntel; zu diesen später mehr.

Beginnen wir also bei der Unterwäsche. Das ist einfach, denn sie existierte lange Zeit nicht. Während in der Marburger Tracht eine lange Unterhose im 19. Jh. generell üblich war, fehlt sie im Hinterland bis weit in das 20. Jh. hinein. Dass Büstenhalter in keiner Tracht vorkamen, muss wohl nicht erwähnt werden. Im Gegenteil dienten die geschnürten Mieder sogar dazu, die Brüste eher klein erscheinen zu lassen.

 

Das Hemd

Das unterste Kleidungsstück war das Hemd. Es reichte bis an das Knie und war mittels eingesetzter Keile glockenartig weit geschnitten. Das schönste Detail an den guten und besten Hemden waren die so genannten „Killer“, die in Weißstickerei gearbeiteten Hemdkragen, die eigenständig aus schmalen Leinenstreifen gearbeitet und erst nachträglich an die Hemden angesetzt wurden. So konnte man auch die gut erhaltenen Kragen zerschlissener Hemden an neue ansetzen. Sowohl Männer- als auch Frauenhemden wurden mit schönen Killern versehen, Männerhemden auch mit weißgestickten Bündchen. Arbeitshemden blieben unbestickt.

 

Das Halstuch

Mit den Hemden leicht zu verwechseln sind die so genannten „Halstücher“, kurze Hemden mit Killer und stark gerafften Ärmeln, die in weiß und in schwarz vorkamen. Die weißen Halstücher wurden über dem Unterrock, laut U. Ewig (S. 49) sogar über dem eigentlichen Hemd, und unter dem weißen Wamst mit roten Ärmelstickereien der Kirmestracht getragen, die schwarzen trug man zur Kirchtracht beim Abendmahl und zur Beerdigung zusätzlich über dem weißen Halstuch (Menges S. 27), wobei das kragenlose schwarze Halstuch den gestickten Kragen des weißen Halstuches zeigte. Weiße Halstücher gab es vorne geschlossen gearbeitet wie ein Hemd oder vorne offen, wie eine Jacke; die schwarzen Halstücher waren im Breidenbacher Grund wie in der Ämtertracht vorne offen gearbeitet und mit zwei Paaren feiner Bänder sowie einer Schließe am unteren Rand zu verschließen. Im Breidenbacher Grund waren die Ärmel der Halstücher an der Schulter stark gerafft angenäht und damit an biedermeierliche Puffärmel erinnernd, in den Ämtertrachten waren die Ärmel gerade angesetzt.

Die Halstücher verschwanden bereits im Laufe des 20. Jhs. aus der Tracht des Breidenbacher Grundes, da sie eher zur Tracht jüngerer Frauen gehörten.  Im Gegensatz zu den Hemden der Männer, die auch schöne Weißstickereien aufwiesen, waren bei den Halstüchern nur die Killer, also die Kragen, bestickt, da die kurzen Ärmel ja unter den Wämstern verborgen waren.

 

Der Unterrock

Erst über dem Hemd folgte der Unterrock, der im 19. und frühen 20. Jh. in der Festtracht und zum Kirchgang aus einem festen grünen Wollstoff, dem so genannten Büffel, mit einem grauen Futter bestand, zur Arbeitstracht im Winter war der Büffel blau gefärbt. Merkwürdigerweise benennt Ursula Ewig die Büffel als aus einem „Leibchen von leichterem Wollstoff, Flanell oder Biber“ (S. 48) und einem Rock von Büffel, „einem schweren geköperten Wollstoff“ zusammengesetzt. Mir sind nur alte Büffel mit gleichem grünem schweren Wollstoff in Leibchen und Rock bekannt, der Rock allerdings ungefüttert, nur mit einer Borte am unteren Rand, das Mieder aber gefüttert. Vor 1860 war der Unterrock wohl unbekannt, zumindest taucht er in keinem Verzeichnis, wie sie bei Eheschließungen als Mitgiftregister aufgesetzt wurden, oder in irgendeiner anderen Quelle vor 1862 auf (U. Ewig, S. 49). Das scheint generell für alle Stücke zu gelten, für die fremdgewebte Stoffe gekauft werden mussten. Der untere Rand des grünen Büffels konnte bei jungen Frauen mit Pailletten und Borten in rot und blau besetzt sein. Der Büffel wuchs mit den Mädchen mit, wie eingesetzte Teile beweisen. In der Ämtertracht Gladenbachs war die Borte immer schwarz und wenn finanziell möglich aus Samt. Der Unterrock bestand tatsächlich aus einem einzigen Ganzkörper-Kleidungsstück, das aus einem ärmellosen Brustteil und einem daran direkt angenähten Rock gleichen Materials bestand. Im Obergericht waren die Ränder des Büffels mit bunt bestickten Bändern besetzt. Da hier der Büffel teilweise über dem Wamst getragen wurde, waren diese Bänder unter dem Mieder sichtbar (Der Tracht treu geblieben S. 144; Justi Blatt I). Auch das könnte seinen Grund darin haben, dass die teuer gekauften Stoffe des Büffels hergezeigt werden sollten. Im Obergericht gab es auch Büffel in rot, im Untergericht nur in der Kindertracht. Im Sommer wurden Unterröcke aus leichteren Baumwollstoffen getragen, sobald diese im 20. Jh. einfach zu kaufen waren. Unterröcke wurden aber auch gestrickt und gehäkelt (Der Tracht treu geblieben, S. 135).

Besonders Mädchen wurden vor der Konfirmation in Baumwollunterröcke gekleidet, ansonsten gehörten sie zur Sommerkleidung. Mädchen trugen über dem Wamst den Unterrock und darüber die Schürze.

Erst im 20. Jh. kam bei den jungen Frauen die Sitte auf, das Oberteil des Unterrocks gegen weiße Stoffträger auszutauschen, wohl zuerst bei den blauen Arbeitsunterröcken, später dann auch bei grünen für Sonntage und die Kirmes, für die die Borten besonders schön besetzt wurden. Die 1904 geborene Elise Blöcher I aus Oberdieten trug noch blaue und grüne Büffel, die 1910 geborene Emilie Dorndorf aus Roth trug nie Büffel, sondern immer Unterröcke aus leichten Stoffen (Der Tracht treu geblieben 134/140). Um 1920 dürften die echten Büffel im Verschwinden begriffen gewesen sein, immer mit Ausnahme der älteren Frauen. Interessanterweise verschwanden die vollständigen Büffel in Wallau nahezu komplett  aus der Erinnerung der Nachkommen der letzten Trachtenträgerinnen, nur noch die mit Trägern galten als authentisch. Das ist umso erstaunlicher, als Menges in seiner Dorfchronik ausschließlich die Büffel mit vollständigem Oberteil erwähnt, die mit Trägern kennt er gar nicht: „Die Hauptkleidung der Frauen besteht, sowohl am Sonntag als auch am Werktag, aus dem Rock und dem Unterrock; bei beiden ist die Brust an den Rock angenäht.“; und: „Das Leibchen des Unterrocks geht auf der Brust zusammen.“ (S.26).  

Leider verzichten viele heutige Trachtengruppen auf die dicken und warmen Unterröcke, was sehr schade ist, da sie maßgeblich die äußere Erscheinung der Gesamttracht sowohl des Ober- und Untergerichtes als auch der Ämter formen und ausmachen: Sie erst geben der Tracht die optische Fülle, lassen den Rock bauschen. Bei den Trachtentänzern fällt er vom eigenen Gewicht gezogen oft einfach flach herunter, was absolut nicht den alten Bildern entspricht. Kein Kiwwelche hätte jemals zu irgendeinem Anlass den Unterrock weggelassen. Und gerade beim Tanz  stützt der Unterrock maßgeblich den schwarzen Rock, um die schwere Beiderwand in der Drehung zu entfalten. Kein Volkstanz sieht dadurch mehr so aus, wie er im letzten Jahrhundert zu sehen war. Der Unterrock mag unbequem erscheinen (übrigens sagen junge Trägerinnen, die in voller Tracht zu Festen gehen, er sei viel bequemer als gedacht), er ist für die Wirkung der vollen Tracht absolut unverzichtbar.

 

Das Wamst

Über dem Unterrock trug man eine Jacke, die im Hinterland Wamst, in den Marburger Trachten „Motzen“ genannt wurde. Im 19. Jahrhundert war das mit zwei Knopfreihen verzierte Wamst der Untergerichtstracht zum Werktag blau, zum Sonntag grün und zur Kirmes weiß; zur harten Trauer und zum Kirchgang war es schwarz. Die Wämster der Sonntagstracht wurden unterschieden anhand der Farbe der doppelten Knopfreihen. Für junge Frauen waren die Knöpfe rot, für ältere Frauen farblos oder grün, Jacken mit schwarzen Knöpfen wurden wohl in der einfachen Trauer und von schon lange verwitweten Frauen, die abgetrauert hatten, getragen. Besonders schön wurden die grünen Wämster durch die Sitte, in den Bündchen der zu lang geschneiderten Ärmel ein kurzes Stück gemusterten Stoffes einzusetzen, das durch Umkrempeln des Bündchens sichtbar wurde. Zu den schwarzen Knöpfen war dieser Stoff schwarz. Das grüne Wamst wurde aber Ende des 19. Jh. abgelöst durch ein blaues zur Kirche und ein weißes gestricktes, das im Unterschied zu dem zur Kirmes an den Ärmeln grüne Stickereien hatte, in denen die alte Wamstfarbe weiterlebte;  das Kirmeswamst hatte dort Stickereien in rot, es gab aber auch einfache weiße Wämster ohne Stickereien an den Ärmeln. Menges kennt in seiner Dorfchronik „Geschichte und Kulturkunde des Dorfes Wallau an der Lahn“ von 1936 die grünen Tuchwämster mit doppelter Knopfreihe nicht mehr, nur noch die schwarzen für den Kirchgang bei älteren Frauen. Die grünen Wämster sind aber für die Zeit vor 1900 gut belegt durch die Bilder bei Justi, Hottenroth und Kretschmer. Das weiße Wamst ohne Stickereien an den Ärmeln wurde auch im Obergericht unter dem Büffel getragen, um die bunten Bänder unter dem Mieder sichtbar zu lassen (Justi, Blatt I). Zur Feldarbeit wurde das Wamst oft über dem Mieder getragen, um es in der Hitze ablegen und hemdsärmelig arbeiten zu können. Das Wamst verschwand in der Endphase der Tracht in den 80er Jahren, als sich die Verwendung von Jacken statt der Mieder durchsetzte, obwohl einige alte Frauen weiterhin ein Wamst unter der am Rock angenähten Strickjacke, also eigentlich zwei Strickjacken übereinander trugen.

Zur Kirmes wurden im 20. Jh. eigene ärmellose Wämster aus schön gemustertem Stoff getragen, die im 19. Jh. noch unbekannt waren und unter der Schnürung des Mieders einen besonderen farbigen Akzent setzten. Sie ersetzten also im Grunde die Bruststecker. Schnittgleiche Wämster aus einfacherem Stoff trugen die Frauen zur Heuernte, so dass der Eindruck entsteht, sie hätten hemdsärmelige Tracht getragen. Allerdings besaßen nicht alle Frauen ein solches ärmelloses Wamst, manche arbeiteten auch in der normalen Arbeitstracht, wie Bilder aus den 30er Jahren belegen.

Im Obergericht hießen nur gestrickte Jacken „Wamst“, die aus Tuch wurden als „Motzen“ bezeichnet, wie in Marburg (Anneliese Born in U. Ewig, S. 122).

                                                                                                                                            

Der Rock

Über der bisherigen Kleidung folgte nun das auffälligste Stück der Frauentracht des Breidenbacher Grundes, nämlich das über der Brust sichtbar geschnürte Mieder aus Samt mit Messingösen und –haken. Dieses Stück war in beiden Trachten des Grundes deutlich sichtbar, im Untergericht mit schwarzen samtenen oder gemusterten, im Obergericht mit bunten Bändern geschnürt. In den Ämtertrachten lag die Schnürung unter der Jacke und erfolgte nur mit dünner Kordel. Unterschieden werden können die Mieder der einzelnen Trachten anhand der Schnitte und der zur Verzierung der Rückenpartie verwendeten aufgenähten Bänder sowie an der Art und Weise, wie sie auf der Rückenpartie geführt werden. Auch die Halsausschnitte der Rückenpartie sind in der Form unterschiedlich, in Wallau läuft zwischen zwei Ecken ein sanfter ausgeschnittener Bogen. Das Samtband auf dem Rücken ist in den Grundtrachten ohne Muster, in den Ämtertrachten gemustert, so genannt „bunt“. In den Gerichtstrachten sind auf dem Rücken zwei Paare schmaler Bänder angeordnet, auf den Rücken der Ämtertrachten sind zwei breite Einzelbänder aufgenäht. Im Obergericht findet man die Doppelbänder des Untergerichts, nur deutlich breiter. Wie auch beim Unterrock war der Rock aus plissierter Beiderwand unmittelbar mit dem Mieder zu einem einzigen Kleidungsstück vernäht, was dazu führte, dass die Trägerin das gesamte Gewicht von Mieder und Rock nur mit den Schultern trug. Gürtel kamen nicht vor. Der Rock wurde stark plissiert an das Mieder angenäht, die Falten waren dicht und sehr klein. Insgesamt wurde der Rock aus 6 Ellen (etwa 2,4 m) Beiderwand hergestellt, die durch die Plissierung einen Rocksaum von etwa 1m ergab. Im Untergericht war der vordere Teil des Rocks, der unterhalb der Öffnung im Mieder lag, nicht plissiert. Der Bund wurde mit Haken und Ösen verschlossen. Im Rock war rechts eine Tasche eingearbeitet.

Die letzte Phase der Tracht im Untergericht des Breidenbacher Grundes sah völlig anders aus, so anders, dass selbst Kinder von Trachtenträgerinnen diese Form kaum noch als Tracht erkannten. Statt der bisherigen geschnürten Mieder wurden Strickjacken mit Knöpfen an die alten Beiderwandröcke angenäht, weshalb es eine erstaunliche Anzahl abgetrennter Mieder aus dem 19. Jh. gibt. Optisch sah das der Kleidung anderer alter Frauen zwar sehr ähnlich, aber das Aneinandernähen von Kleidung des Ober- und des Unterkörpers war und blieb ein deutliches Kennzeichen für die Tracht, nicht für städtische Kleidung. Außerdem blieben die Schürzen erhalten, da ja die Beiderwandröcke noch immer vorne  schlicht nicht geschlossen waren und ein Weglassen der Schürze so zu sagen interessante Einblicke gewährt hätte. Die Tracht wurde also weiterentwickelt, blieb aber eindeutig Tracht. Der Einschnitt erfolgte etwa in den 60er Jahren, als die Frauen der Jahrgänge etwa ab 1908 bei den Alltagsstücken die Mieder gegen angenähte Jacken austauschten, die älteren Frauen blieben bis zum Lebensende bei der alten Trachtenform. Die Festtagstracht wurde erst später abgeändert, als keine Mieder mehr nachzukaufen und die alten allmählich abgewetzt waren. 

Das Verfahren der zusammengefügten Teile der Bekleidung von Ober- und Unterkörper ist eindeutig die Weiterführung mittelalterlicher Mode. Diese tatsächlich äußerst beschwerlich zu tragende Kleidungsweise hatte in den Städten bereits die Renaissance nicht mehr erlebt. Dieses eine Detail macht zumindest das Mieder in den Trachten des hessischen Hinterlandes wohl zum ältesten erhaltenen Kleidungselement Deutschlands. In Marburg findet sich die Nachfolgeform, nämlich eine um die Taille gelegte Rolle, „Wurst“ genannt, auf der der Rockbund aufliegt und so auch immer noch einen Gürtel unnötig macht. In der Schwalm kennt man quasi drei Teile einer solchen Wurst an die Schöße des Motzen angenäht, wie auch an einigen älteren Stücken aus der Marburger katholischen Tracht.      

 

Das Brusttuch

Der Bruststecker war eines der auffälligsten Teile der Hinterländer Trachten. Sie entstanden durch das über allem geschnürte Mieder, das Stickereien auf den darunter getragenen Kleidungsstücken immer wieder beschädigt und zerrieben hätte. Von allen Teilen der Tracht waren die Bruststecker der schönste und prachtvollste. Im Hinterland hießen sie „Brusttücher“. Im Untergericht verschwanden sie bereits vor dem Obergericht, in den Ämtertrachten waren sie bis zum Ende notwendig, um die Farbcodes der Tracht wieder zu geben. Die einzelnen Hinterländer Gebiete unterschieden sich in der Form des Zuschnitts der tragenden Pappe in den Brusttüchern. Die der Tracht im Obergericht waren gerade geschnittene lang gestreckte Dreiecke ohne Spitze, die des Untergerichts weisen beim ansonsten gleichen Schnitt an der längeren Schmalseite einen halbrunden Ausschnitt mit lang ausgezogenen Ecken auf und  im Amt Biedenkopf wurden die Langseiten des Trapezes gleichsam „ausgebeult“ zugeschnitten. Justi bietet für alle drei Gruppen je ein wunderbar reproduziertes Beispiel. Justis handwerkliche Qualität der Darstellung selbst unterschiedlicher Stoffe im selben Kleidungsstück macht sein Handbuch ja zu einem eigentlich unvorstellbaren Glücksfall für die Geschichte der Überlieferung der Hinterländer Trachten.

Die Brusttücher wurden aufwändig bestickt, mit Metalldraht und Pailletten verziert und mit bunten Bändern eingefasst.  Hier tauchen auch die oft für allgemein verbindlich angesehenen Farben für verschiedene Alterstufen auf. So sind z.B. in der Tracht des Amtes Biedenkopf, die ansonsten ja überwiegend schwarz ist, die Farbinformationen der Bruststecker altersangepasst. Die Brusttücher der jungen Frauen sind bunt mit rot, die bunten Farben und insbesondere das Rot verschwinden zunehmend nach der Hochzeit, im Alter und zur Kirch- sowie zur Trauertracht

waren die Brusttücher schwarz, wo möglich mit weißer Stickerei, oft auch mit Initialen und Jahreszahl. Diese letztgenannten Biedenköpfer schwarzen Brusttücher erklären auch am besten den Begriff des „Tuches“, da sie nicht auf einer Pappe aufgezogen sind, sondern weich über einem festen Stoff gearbeitet wurden.

Die Brusttücher verschwanden bereits vor 1900 aus der Tracht der jungen Frauen, Bilder älterer Trägerinnen wurden in den 30er Jahren veröffentlicht. Wie unpraktisch der Bruststecker getragen wurde, zeigen besonders die Bilder einer jungen Frau aus Wallau mit rotem Bruststecker wie auch das der alten Kirchgängerin.

 

Die Schürze

Über dem Rock des Mieders wurde wie in allen bäuerlichen Trachten Europas eine Schürze getragen. Im Untergericht waren die Schürzen sehr breit, sie umfassten beinahe den ganzen Körper. Sie waren am Saum unverziert, allerdings gab es solche mit einfacheren und andere mit gewirkten Bändern, aber immer waren die guten Bänder schwarz. Arbeitsschürzen konnten auch Bänder in blauem Stoff haben. Lediglich junge Frauen scheinen hier um 1900 noch Schürzen mit bestickten Bandenden getragen zu haben, wie auf dem Bild 5 in Lückings „Trachtenleben in Deutschland“ Band 3. Die Bänder der Kirmestrachten waren immer in Rot bestickt mit Mustern und den Initialen der Trägerin sowie dem Jahr der Anfertigung. Die Schürzen zur Arbeit und zum Sonntag außerhalb der Trauer waren blau, die zur Kirche und zur Trauer schwarz, die zur weißen Arbeit und zur Kirmes weiß, letztere rot verziert. Blaue und schwarze Schürzen gab es in „geglätzert“ und in einfach, also matt, was im Dialekt als „trocken“ bezeichnet wurde; insbesondere Schürzen zur harten Trauer waren also trocken. Geglätzert wurde ein Stoff nicht wie heute oft zu lesen ist, z.B. in dem neuen Buch „Wie sei mer da gemostert“ S. 39, indem eine Appretur aufgebracht wurde, sondern rein mechanisch indem er sehr aufwändig mit Steinen so lange bearbeitet wurde, bis die Fasern so glatt waren, dass die Oberfläche zu glänzen begann. Im Grunde genommen wurde auf dieselbe Weise geglätzert, wie Hosenknie anfangen speckig zu glänzen, wenn man häufig auf ihnen rutscht. Besonders in der reichen Schwalm waren geglätzerte Stoffe weit verbreitet. So wurden schwarze Jacken für den Sonntagsgottesdienst erst als Stoff und später noch einmal als Kleidungsstück geglätzert, wobei sogar das Garn in den Nähten und angenähte Spitzen glänzten. Im Untergericht wie auch in den Ämtertrachten waren die Schürzen weniger breit und am oberen Saum durch Stickereien verziert. Die „guten“ Schürzen zum Sonntag und zur Kirmes wurden im Untergericht nicht gebunden, sondern mit speziellen Nadeln mit kunstvollen Glasköpfen festgesteckt. Schön zu sehen ist das auf dem Blatt XI in Justis „Hessischem Trachtenbuch“. Die Feinheit der Art, wie die Schürzenbänder von Gretchen Schneider durch die Nadeln kunstvoll gelegt und ohne sichtbaren Knoten gehalten werden, ist bemerkenswert.  In allen Trachten wurde besonderer Wert auf die sauberen Falten der Schürzen gelegt. Im Untergericht waren die Arbeitsschürzen kaum gefaltet, die „guten“ aber sehr sauber in breite Falten gelegt und gebügelt, der Bund im 20. Jh. oft mit schwarzem Samt besetzt. Allerdings wurden auch gute Schürzen in den 30er Jahren nicht in Falten gelegt getragen. Im Obergericht waren die Schürzen stark gerafft am Band festgenäht, die Faltung selbst war breiter angelegt als diese Plissierung. In den Ämtertrachten waren die Schürzen außerordentlich eng plissiert und sehr schwer. Sie wurden vorne leicht durchhängend getragen, um die schönen Messingschnallen am unteren Rand der Jacken freizulassen. Letztere Trageform galt auch für die Schürzen zur Kirmes im Ober- und Untergericht. Obergerichts- und Ämterschürzen haben oft sehr schön gestickte und mit Pailletten verzierte Säume. Die Schürzen des Untergerichts haben lange Bänder, um sie immer vor dem Bauch zu binden, alle anderen Trachten des Hinterlandes binden die kürzeren Bänder hinter dem Rücken und haben deshalb Raum für bunt bestickte Schürzensäume.

In der Kirmestracht des Breidenbacher Grundes waren die Schürzen zusammen mit den weißen Wämstern das Auffallenste und Schönste. Bei jungen Frauen waren die Stickereien auf beiden in rot ausgeführt und besonders die Schürzenstickereien waren von Bedeutung, nannten sie doch die Initialen der Besitzerin und das Entstehungsdatum der Schürze und bilden damit heute wichtige Belegstücke. 

In der absoluten Spätzeit der Tracht wurden im Alltag blaue und schwarze Schürzen mit kurzen Bändern, die hinter dem Rücken gebunden wurden und Schürzen, die nahezu den gesamten Körper umfassten und hinter dem Rücken mit Haken und Ösen geschlossen wurden, getragen. Zu Sonntagen sah man weiterhin die vorne gebundenen Schürzen der Festtracht. 

 

Die Strümpfe und Strumpfbänder

Strümpfe waren der ganze Stolz einer jeden Tracht, was kein Wunder ist, bedenkt man die Arbeit, die in weiße Strümpfe investiert werden musste. Hier lebte in der Tracht das barocke höfische Denken weiter, in dem Strümpfe in weiß den Adel kennzeichneten, der nicht im Schmutz arbeiten musste, auch wenn die Strümpfe an den Höfen Europas natürlich feine gewirkte waren, nicht aus Schafwolle gestrickt. Nicht umsonst wurden nach ihrer Vertreibung unter Ludwig XIV. gerade die hugenottischen Strumpfwirker Südfrankreichs von allen deutschen Fürsten umworben, sich bei ihnen anzusiedeln. Das Land bekam davon nichts ab. Wieder aber zeigt sich der Erfindungsreichtum der ländlichen Bevölkerung, die sich optisch an den Städten orientierte, aber das, was nicht für Bauern zu bezahlen war, einfach mit ihren Mitteln nacharbeitete und durchaus veränderte.

So wurden auch die Strümpfe immer schön gestrickt, lang bis über das Knie und immer weiß gehalten, wie viel Mühe das auch machen musste. Folgerichtig gab es keinen so großen Disput zwischen den Trägerinnen der Tracht im Untergericht der so heftig war wie der, als die jungen Frauen aufgrund des Seifenmangels in der Weltwirtschaftskrise dazu übergingen, die weißen Strümpfe schwarz zu färben und später mit schwarzem Garn zu stricken oder schwarze Strümpfe zu kaufen. Für die ältesten Frauen war das schlicht ein Zeichen von Faulheit. So zeigt ein Bild aus dem Dritten Reich, das wahrscheinlich anlässlich der massenhaften Verleihung des Mutterkreuzes entstand, nur noch eine einzige Frau mit weißen Strümpfen, nämlich die augenscheinlich älteste. Sie trägt auch noch eine auf alte weise geglätzerte Schürze.

Auch andere Bilder belegen das Verschwinden der weißen Strümpfe um 1930. So trägt Katharina Donges, später verheiratete Benner, zur Konfirmation 1924 noch weiße, etwa fünf Jahre später schwarze Strümpfe.

Um die weißen Strümpfe noch zu unterstreichen wurden die ebenfalls bereits aus dem Barock bekannten Strumpfbänder im Breidenbacher Grund zu einem Schmuckstück weiterentwickelt. In einem aus dem Mittelalter übernommenen Flechtverfahren wurden Strumpfbänder in rot und grün außerhalb der Trauer, in der Trauer in blau oder violett und grün, angefertigt, deren Fäden an den beiden Enden in jeweils 6 – 8 Bommeln zusammengefasst wurden, die unter dem Rockrand hervorblitzten. Im 19. Jh. existierten noch Trauerbänder in grün-schwarz. Diese Strumpfbänder, im Dialekt „Hosebännel“ genannt (ein Wort, in dem ein indogermanisches Wort weiterlebt, das wohl „Röhre an den Beinen“ bedeutete, später im Deutschen zu Hose geworden, im Gälischen Schottlands werden bis heute die Strümpfe als „hose“ bezeichnet), waren ab dem Ende des 19. Jh. eines der Kennzeichen der Breidenbacher Trachten schlechthin. In den Trachten des Amtes Biedenkopf waren die Bänder gleichfalls gewirkt und rot-grün, aber auch andere Farben mit eingeflochten und ohne die Bommeln an den Enden, die Schnüre laufen hier einfach zusammengedreht aus. Hier wurden die Bänder auch einfach komplett um das Bein gewickelt und die Enden eingesteckt, nicht geknotet, es sah auch nichts unter dem Rock hervor. Interessanterweise hatten die Frauen der Dörfer an der Salzböde, also die, die am weitesten von den Dörfern des Breidenbacher Grundes entfernt sind, Hosebännel mit kleinen Bommeln an den Enden (Dorothee Henßen, S. 46).

Die Strumpfbänder wurden bis zum Ende der Tracht getragen, manche alte Frauen verzichteten auf sie nur bei Trauer. Hier gab es keine echte Regel mehr, offensichtlich spielte auch das einfache Verschwinden durch Abnutzung eine Rolle. Abgerissene Bommeln konnten nicht mehr ersetzt werden, ebenso wie gerissene Bänder. Dafür spricht auch, dass die Bänder für die Trauer in blau oder violett und grün ungleich seltener sind als die in rot und grün, da sie länger benutzt wurden und zuerst nicht mehr ersetzt werden konnten, weshalb dann keine mehr getragen wurden.

 

Die Schuhe

Ursprünglich wurden auch im Hinterland barocke Schuhe getragen, die mit Schnallen geschlossen wurden und einen spitzen hohen Absatz aufwiesen, der mit seiner gebogenen Form das Hochspritzen von Schlamm auf die weißen Strümpfe verhinderte. Solche Schuhe überlebten nur noch in der Schwalm, weshalb sie heute allgemein als reine Schwälmer Schuhe angesehen werden. Sie werden dort aber immer prachtvoller ausgefallen sein als im Hinterland. Ab der Mitte des 19. Jh. ging man im Hinterland zu Schuhen mit flachen Sohlen und hochgezogenen Schäften mit Schnürung über. Vermutlich wiesen schon die Barockschuhe eine Färbung an der Lasche auf, wie sie noch bei Schwälmer Schuhen nachweisbar ist; bei den späteren Stiefeletten war an der Lasche ein rotes Streifen Leder angenäht, in der Trauer war er grün. Schuhe für harte Trauer mit schwarzen Laschen gab es offensichtlich nicht. Wieder wurde grün erst zur Farbe verheirateter Frauen durch die häufigen Trauerfälle in den durch die Heirat vereinten großen Familien, die Frauen mussten nicht mit der Hochzeit wechseln. Unverheiratete Frauen dürften aber auch spätestens mit den Wechseljahren zu grünen Laschen übergegangen sein, um nicht aus ihren Alterskameradinnen heraus zu stechen. Die Schuhe im Amt Biedenkopf hatten keine gefärbten Laschen.

Wie alle Trachtenschuhe wurden beide Schuhe eines Paares über denselben Leisten geschlagen, es gab also keine rechten und linken Schuhe. Dadurch konnte man die Schuhe abwechselnd an beiden Füssen tragen und so die Sohle besser und länger abnutzen.

In der allerletzten Phase der Tracht glichen sich die Schuhe den flachen Konfektionsschuhen der 2. Hälfte des 20. Jhs. an, wurden aber immer noch über einen Leisten geschlagen. Mit dem Aussterben der letzten voll ausgebildeten Schuster ging man zu grundsätzlich schwarzen Konfektionsschuhen über.

 

 

 

 

 

 

Die Tücher und Wischtücher

Zu einer vollständigen Tracht im Breidenbacher Grund gehörten Tücher, die um den Hals geschlungen wurden. Sie waren auffallend groß, so groß, dass sie von heutigen jungen Frauen oft fälschlich für Tischdecken gehalten werden, wie auffallend oft runde Colaränder auf ihnen verraten. Das ist bei Randlängen von etwa 1,3 Metern bei Rosentüchern aber auch kein Wunder. Allerdings umfasste ein vollständiger Satz Tücher Rosentücher in rot und blau in drei verschiedenen Größen mit jeweils verschiedener Gestaltung.

Duller beobachtete 1844 ein rein schwarzes Halstuch, wie es auch Nebel in Farbe wiedergibt. Nach einer kurzen Phase der bestickten Seidentücher und gestreifter Leinentücher im Alltag erschienen die berühmten Rosentücher in Wallau für die Sonntagstracht.

Im Alltag wurden gestrolichte Tücher getragen, große Tücher mit einer Grundfarbe und einem in Farbnuancen gestreiften Rand. Gestrolichte Tücher gab es in rot und blau, für ältere Frauen auch in braun. Die Rosentücher wurden im letzten Drittel des 19. Jhs. von einem Niederländer in Wallau verkauft, der Frauenhaare in Zahlung nahm. Die sehr farbigen Rosentücher wurden mit Rosen in rot-grün im besseren Alltag und zum Sonntag getragen, zur leichten Trauer in blau-grün. Für ältere Frauen gab es auch Rosentücher auf braunem Grund statt dem üblichen schwarzen. Auffällig ist, dass nahezu alle Rosentücher weitgehend identisch sind, was die Erzählungen von dem einzigen Händler als wahrscheinlich richtig beweist. Die ältesten erkennt man an einer interessanten Herstellungsart. Auf einem weißen Tuch wurden zuerst die Rosen und grünen Blätter gedruckt, und erst dann wurde der Hintergrund schwarz gefärbt, was sich durch dünne weiße Ränder um die Pflanzen verrät. Diese Technik wurde vermutlich nach 1858 ebenso wie viele andere kunstgewerbliche Techniken aus Japan übernommen, wo schon seit über 100 Jahren unter anderem die wertvollen Kuro- und Iro-Tomesode-Kimono in dieser Yuzen genannten Technik gestaltet wurden, von der ich hier zwei Beispiele anführe.

 

Schwarze quadratische Tücher mit Fransen wurden immer im Sommer zur Kirche getragen, ebenso im Winter ein sehr wertvoller schwarzer Schal mit einem eingearbeiteten Muster, der wie ein dünner Pelz wirkte. Dieser war nahezu identisch geschnitten wie ein vergleichbares Stück der Marburger evangelischen Tracht, das ungemustert und deutlich größer war. Zur Trauer trugen Frauen im Alltag einen sehr schmal geschnittenen Schal aus schwarzem Tuch mit Fransen.

Zum Abendmahl wurde ein so genanntes Wischtuch zur Sonntagstracht in der Hand getragen.

Es diente zum Schutz der gewandelten Hostie, in der auch nach lutherischem Verständnis Christus anwesend ist (Konsubstanziationslehre), zwar nicht deckungsgleich zum katholischen Verständnis des Transsubstanziationslehre, aber doch so wichtig, dass jedes noch so kleine Stück des Leibes Christi vor dem Verlust aus dem Mund geschützt werden musste. Also empfing man die Hostie mit untergehaltenem Wischtuch, das man sich, sobald die Hostie vom Mund aufgenommen worden war, vor den Mund hielt und diesen abschließend mit dem Tuch abwischte. Die Wischtücher waren große weiße fein bestickte Leinentücher, oft mit Initialen und Datum. Sie gehörten zur feinsten Ausstattung der Tracht.

Die Tücher um den Hals wurden ursprünglich hinter dem Hals geknotet (1844), danach um den Hals geschlungen und in einander zum Ring gesteckt. Um 1940 herrschte relativ große Freiheit in der Trageweise, Bilder zeigen teilweise drei Trägerinnen mit drei verschiedenen Tuchbindearten auf einem Bild. So ließen Frauen die Zipfel herunterhängen, steckten sie in das Wamst oder legten sie noch zum Ring um den Hals; heute stecken die jungen Trachtenträgerinnen die Zipfel als Ersatz für das Kirmeswamst sehr schön unter die Schnürung des Mieders, was angesichts der Schönheit insbesondere der roten Rosentücher der Tracht ein sehr prächtiges Aussehen gibt und als Weiterentwicklung der Tracht von einem tiefen Verständnis für sie zeugt.

Die schönsten Tücher der Tracht des Amtes Biedenkopf sind mit zwei Bändern versehen, die zu bestimmten Zeiten in die zwei Zöpfe mit eingeflochten wurden, die unter der Dellmutsche über den Rücken fielen.

 

Das Stilpchen

Die Stilpchen verschiedener Epochen sind am ehesten zu erkennen durch die unterschiedlichen Verhältnisse zwischen Deckel und Kopfteil. Auf dem Nebel-Blatt von 1844 ist der Deckel noch kaum gegenüber dem Kopfteil überlappend, gegen 1880 überlappten die Deckel fast drei Finger breit, gegen Ende der Stilpchenära wurden die Deckel wieder kleiner.

Junge Mädchen trugen Mitte des 19. Jhs. rote Stilpchen mit einfacher weißer Stickerei, zur Kirmes mit üppiger Stickarbeit um ein Zentralmotiv angeordnet, oft Blumen oder Kreuzvariationen, aber ein bislang singuläres Stück belegt eine Mittelmaske mit drohendem Mund, also offensichtlich apotropäisch, Gefahren abwehrend, gedacht. Nicht zu klären ist, warum es rote Kirmesstilpchen mit zwei senkrechten schwarzen Streifen und ohne diese Streifen gab. Entweder stammen die mit Streifen aus Dörfern rechts der Lahn, diejenigen ohne Streifen von links der Lahn, oder aber, so die meist kolportierte Meinung, es handelt sich um Kennzeichen der Häuser, die zu  verschiedenen Herren gehörten. Bis zum 25. Mai 1811 waren die Höfe Wallaus entweder dem hessischen Großherzog (Schmittgericht, „unter’m Weg“), den Baronen von Breidenbach zu Breidenstein (Erbgericht im  Hainbach) oder der Pfarrei Hatzfeld (Gericht Melsbach, im Elsbach) leibeigen und damit  abgabenpflichtig. 1829 erlangte das Großherzogtum Hessen die Höfe der Breidenbacher. (. Dr. O. Gierke, Das Recht des Breidenbacher Grundes, S. 14 – 25). Das aber bedeutet, dass die fertige Ausprägung der Stilpchen deutlich nach der eigentlichen Zugehörigkeit der Höfe zu Herren stattfand und eigentlich um 1900 keine Rolle mehr spielen dürfte. Außerdem sind zwei Varianten für die Dreierzahl der Herrschaften zu wenig, um die Bewohner der Höfe als ihren Herrschaften zugehörig kennzeichnen zu können. Eine dritte Stilpchenzier ist aber nicht belegt. Im Grunde müssten dann übrigens alle Farben so gekennzeichnet sein, nicht nur die für Festtage.  Leider ist es nicht zu klären, was hinter den zwei Stilpchenvarianten steckte.

Im Alltag wurden wohl gar keine Stilpchen getragen, so auf dem Bild der Rosa Hein, Wallauer Ortschronik Band 2 nach der Seite 14, oder auf dem Bild der Spinnerin im gekrette Ern.

Weit verbreitet ist die Meinung, Stilpchen zur Kirmes seien alle nur vollständig mit Initialen und Datum. Das ist nicht richtig, da die meisten Feststilpchen, die ich bisher in der Hand hatte, keine solche Kennzeichnung hatten. Datierungen sind auch seltener als Initialen und verraten, dass die Sitte solcher Kennzeichnungen erst recht spät überhaupt aufkam, da alle Stilpchen, auch die mit ausschließlich Initialen, mit diesen Stickereien noch sehr gut erhalten sind und kaum getragen wurden. Die mir bekannten Daten nennen alle  Jahre erst um 1880.Allerdings ist es sehr zu begrüßen, dass die Trachtengruppen und –tänzer ihre Stilpchen heute so in aller Regel kennzeichnen, da das sehr wirkungsvoll verhindert, dass moderne Stilpchen als ja auch finanziell sehr wertvolle antike verkauft werden. Diese Sitte sollte also unbedingt beibehalten werden.

Zur leichten Trauer wurde ein Stilpchen getragen, das nur mit unbesticktem blau gemustertem Baumwollstoff, also Kattun, überzogen war;

 

zur Kirche ohne Abendmahl ein mit weißem Piqué überzogenes, zur Abendmahlstracht eines, dessen weißes Tuch unterwattiert war und dann schwarz bestickt wurde, wodurch das Weiß erhoben hervortrat, ein so genanntes „geknippeltes“ Stilpchen; zu harten Trauer ein komplett schwarzes. Die Bänder waren immer ganz schwarz, sie wurden in der Mitte des 19. Jhs. noch unter dem Kinn gebunden, später wandelte sich das rechte Band zu einer Schlaufe, durch die der jetzt deutlich längere linke Bändel durchgezogen und dort mit einer Schleife festgebunden wurde. Nur an den Trauerstilpchen in blau gab es selten weiße Bändel mit einer Spitze, das einfassende Band war aber auch hier immer schwarz.

 

 

Der Trauermantel

   

Im 19. Jh. gehörte zur Tracht auch noch das Trauermäntelchen, dem sich auch schon Hottenroth in seinen "Deutschen Volkstrachten" widmet (Bd. 2, Seite 36 und Figur 7). In der Marburger evangelischen Tracht wurde es im 19. Jh. auch von Männern getragen, möglicherweise auch in anderen Trachtenregionen. In der Schwalm hat es sich bis weit in das 20. Jh. gehalten, auch im Breidenbacher Grund konnten noch in den 70er Jahren des 20. Jh. Beerdigungen beobachteten werden, die unvoreingenommene Beobachter von auswärts für erstaunlich gut von Nonnen besucht hielten. Derselbe Fehler unterläuft oft Touristen, die Friedhöfe mit alten Grabsteinen wie z.B. in Neustadt/Hessen besuchen und dort scheinbar unter dem Kreuz reihenweise perspektivisch angeordnet unterschiedlich große Nonnen versammelt finden. Auf anderen Steinen minderer darstellerischer Qualität scheinen alle Frauen und Mädchen die Frisur bei Pipi Langstrumpf gestohlen zu haben. Nicht ganz zufällig hat auch Justi auf Tafel VII Anna Seip mit ihrer Trauertracht auf dem Friedhof Wommelshausen vor einen solchen Grabstein platziert. Tatsächlich sind es die trauernden weiblichen Familienangehörigen, Frauen und Mädchen, mit Trauermantel, nebeneinander, nicht perspektivisch geordnet. (Für Fremde aus der Stadt war die Tracht ja ohnehin extrem sehenswert. Das Hinterland wurde noch in den 70er Jahren von Touristen aus dem Ruhrgebiet, von den einheimischen Kindern die "Gucke-mal-hier,gucke-mal-da"-s genannt, besucht, die ihren Kindern diese fremdartigen Anblicke zeigen wollten, und noch in den 80ern verursachte Katharina Schneider, die "Althaus-Oma", unbeabsichtigt einen Unfall, als ein junger Mann aus Berlin bei der Fahrt durch Wallau den Anblick der alten Frau in Tracht, die vor ihm  kreuzte, während des Fahrens so lange nicht aus den Augen lassen wollte, bis ihn eine Straßenlaterne stoppte. Und auch andere Trachtenträgerinnen waren die hiesigen Kiwwelcher nicht gewohnt. So hielten ungarische Vertriebene, die selbst noch Tracht trugen, die ersten Hinterländerinnen, die sie in Biedenkopf trafen, für andere Ungarn und fragten sie auf Ungarisch, wo die katholische Kirche sei, wunderten sich aber, dass sie keine Antwort bekamen.)

Der halbrunde Trauermantel war um einen kleinen halbrunden Ausschnitt in enge Falten gelegt und wurde von den Frauen im Hinterland über einem weißen oder weiß-schwarzen Käppchen getragen, das den nonnenartigen Eindruck noch verstärkte. Die Marburger evangelische Tracht kannte dafür schwarze Stilpchen von besondere Form, die im 19. Jh. noch als „Saumagen“ bezeichnet wurden. Später trug man den Trauermantel hier über dem Abendmahlshäubchen, einem Stoffhäubchen, das über das Stilpchen gebunden wurde. Trauermäntel in der kurzen Form sind typisch für die mittelhessischen Trachtengebiete.

 

5. Die Farbenlehre der Tracht

 

Oft finden sich in der Literatur ganz allgemeine Angaben zur Farbenlehre deutscher Trachten, nach denen für die jungen Frauen rot, für verheiratete grün, für Trauer schwarz und für das Alter violett als Kennzeichen galten. Das trifft in vielen Fällen, so insbesondere in der sehr reichen Schwalm, zweifellos zu, allerdings ebenso unzweifelhaft nicht für alle Trachten, insbesondere im Hinterland. So ist die Dellmutschentracht um Dautphe zu allen Lebensaltern überwiegend schwarz mit wenigen Akzenten, während noch im 19. Jh. die Tracht der jungen Frauen bunte Tücher, Schürzenbänder und kleine Accessoires farbig aufputzten. Gleiches gilt aber auch für die eigentlich viel buntere Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes, bzw. galt dort, solange die Tracht vollständig getragen werden durfte. Vor dem Verbot der Stilpchen zur Konfirmation gegen Ende des 19. Jh. zeigen die Bilder eine bunte, aber immer Farben mischende Tracht. Interessant ist auch, dass bestimmte Farben auf bestimmten Stücken der Tracht des Untergerichts generell fehlen. So gab es die charakteristischen Stilpchen nur in rot, blau, weiß, schwarz-weiß und schwarz, nicht aber in Grün, während andererseits die Dellmutschen im benachbarten  Trachtengebiet immer schwarz waren. Die Zuordnung dieser Farben ist nach der Literatur schlicht unmöglich, da sich die Autoren hoffnungslos widersprechen. So kennt Adolf Kretschmer in seinem berühmten Werk nur Stilpchen in weiß für den Alltag und rot für die Mädchen (S. 64 und Tafel 38), Friedrich Hottenroth in den "Nassauischen Volkstrachten" beschreibt nur das rote, das auch auf allen Abbildungen bei ihm vorherrscht (S. 32, Tafeln 1 und 2), während Adolf Menges als eigentlich sehr verlässlicher ortskundiger Zeuge, der auch seine Gesprächspartnerinnen benennt, ausgerechnet bei den Stilpchen scheinbar nicht voll informiert ist. Er weist den Mädchen das rote, den Frauen im Alltag das blaue Stilpchen zu, der Trauer aber wie auch dem Abendmahl ein weißes mit weißen Sternen besticktes, das heute durch übrig gebliebene Originale meines Wissens  nicht belegt ist. Vielleicht handelt es sich aber einfach um einen Druckfehler oder einen so genanten freudschen Fehler, bei dem schlicht die Farben weiß und schwarz verwechselt wurden, denn dann würde die Beschreibung wieder stimmen, weißer Stoff mit schwarzer Stickerei.  In seiner Liste fehlen aber die noch vorhandenen weißen ohne Stickerei wie auch die rein schwarzen, von denen das einzig mir bekannte im Biedenköpfer Schloss aufbewahrt wird. Ursula Ewig führt für die Mädchen und den Alltag das rote Stilpchen an, für das Abendmahl das weiß-schwarze "geknüppelte", also über eine Watteeinlage erhaben gestickte, für die Trauer das blaue und für den Kirchgang bei Trauer das weiße aus Piqué (S. 69 - 71). Da aber schwarze Stilpchen existiert haben, müssen sie wohl zumindest in der harten Trauer getragen worden sein. Ein interessantes Bild findet sich bei Wolf Lücking (Bild Nr. 5): Es zeigt eine Familie des Breidenbacher Grundes um 1900 mit Frau und älterer Tochter, die beide sowohl ein weißes Stilpchen als auch geglätzerte Schürzen mit weißer Stickerei tragen, also eindeutig nicht in harter Trauer sind, sondern wenn überhaupt in Trauer dann ganz kurz vor dem Abtrauern stehen. Dem feierlichen Aufzug des Mannes wie auch der weißen Jacke und der geglätzerten Schürze der jüngsten Tochter nach ist eher an eine festliche Sonntagstracht zu denken, aber nicht an Trauer. Ewig und Menges irren also möglicherweise in ihrer Zuordnung der weißen Stilpchen zur Trauertracht. Vermutlich wurden die weißen Sonntags nach dem Kirchgang getragen oder zur Kirche, wenn kein Abendmahl gefeiert wurde, allenfalls auch zur einfachen Trauer.

In der Marburger evangelischen Tracht vollzog sich sogar ein deutlicher Farbwandel: Vor 1900 wurden hier Stilpchen getragen, die mit farbigen Bändern gesäumt waren, rot für die Mädchen, grün für verheiratete Frauen. Im 20. Jh. finden sich aber nur noch schwarz gesäumte Stilpchen mit durchaus farblich nicht sicher zu bestimmenden gestickten Feldern, wie auch die ganze Tracht keinerlei echte Farbenlehre mehr aufweist, außer, dass mit dem Alter die Farben offensichtlich gedeckter wurden. Nur die Trauertracht blieb bei Marburg immer schwarz in den verschiedenen Abstufungen des "Abtrauerns".

Dasselbe gilt für das zweite sehr bekannte Erkennungszeichen der Hinterländer Trachten, nämlich für ihre gewirkten Strumpfbänder. Werden im 19. Jh. noch rein rote und rein grüne erwähnt, aber auch keine rein schwarzen, so finden sich im 20. Jh. ausschließlich solche mit rot und grün bzw. violett und grün oder sogar mit allen drei Farben in einem einzigen Band gemischt. Schwarz-grüne sind nur außerordentlich selten belegt. Sie dienen wieder hauptsächlich der Unterscheidung der einzelnen Trachten verschiedener Anlässe untereinander, nicht in erster Linie zur Differenzierung innerhalb der Dorfgemeinschaft anhand von Heirat oder Lebensalter. Die rot-grünen wurden generell außerhalb der Trauer getragen, auch von verheirateten Frauen. Die violett-grünen oder blau-grünen waren im 20. Jh. die Strumpfbänder zur Trauertracht, weshalb sie von einem bestimmten Lebensalter praktisch automatisch getragen wurden. Auch die Stickereien auf den Ärmeln der jungen Frauen zum Sonntag nach dem Verschwinden der grünen Stoffwämster, die es auch nie in rotem Stoff gegeben hatte, waren grün, rot gestickt waren die Bündchen der Wämster zur Kirmes. Ebenso bleiben die nach ihrem Stoff "Büffel" genannten bunten Unterröcke immer grün, im Obergericht auch rot, mit bunten Borten und teilweise Pailletten. Sie existieren nicht in schwarz. Die grünen Büffel der Dellmutschentracht hatten aber immer schwarze Samtborten, auch außerhalb der Trauer und für junge Frauen.

 

Schwarz

 

Das "Abtrauern" gehört wohl zu den für moderne Menschen unvorstellbarsten Gegebenheiten der Tracht. Wird heute im Allgemeinen gar kein Zeichen von Trauer mehr in der Kleidung gezeigt, oder gehört schwarze Kleidung längst zu den Erkennungszeichen bestimmter Jugendkulturen oder Modestile, so war in den meisten Trachten nicht nur zu erkennen, dass man trauerte, sondern auch in welchem Grad der Verwandtschaft zum Verstorbenen, oder bei nahen Verwandten seit wie vielen Jahren man trauerte. Die schwarze Kleidungsfarbe war unterschieden in das "blasse" oder „trockene“ und das "geglätzerte" Schwarz. Geglätzerte Schürzen glänzten, weil der Stoff mechanisch behandelt worden war, blasses Schwarz war matt. Man unterschied die "Harte Trauer", in der die bis auf die weißen Hemden, schwarz-grünen oder blau –grünen Strumpfbänder und grünen oder blauen Unterröcke absolut schwarze Kleidung keinerlei Zier aufweisen durfte und die für den Ehemann und die Kinder sieben Jahre dauerte, für Eltern und nähere Verwandte 2 - 3 Jahre. In dieser Zeit war die Tracht blass schwarz. Nach einem komplizierten Regelwerk traten jedes Jahr weitere Details an Farbe oder Zierde wieder dazu, bis endlich die normale Alltagstracht getragen werden durfte. Wer viele Verwandte hatte, konnte aufgrund der niedrigen Lebenserwartung oft schon nach dem 35. Lebensjahr keine andere Tracht mehr als irgendeine Stufe der Trauer, also schwarz, tragen. Lediglich die Strümpfe und die Strumpfbänder blieben immer weiß bzw. in der Trauer i 20. Jh. grün-violett. Nach dem Abtrauern kehrte man zu den rot-grünen Strumpfbändern zurück. Welches Stilpchen zur Trauer getragen wurde, ist, wie oben erwähnt, nicht einheitlich in der Literatur geklärt. Vermutlich war es das schlicht blaue, aber das schwarze dürfte sicher zur harten Trauer getragen worden sein. Vielleicht änderte sich aber auch das noch vor dem Ablegen der Stilpchen um 1900. Insbesondere das Verschwinden der schwarzen Stilpchen war vollständig, auch im Bewusstsein der nachkommenden Trachtenträgerinnen.  Menges scheint schwarze Stilpchen weder beobachtet zu haben, noch haben seine Gewährsfrauen sie ihm gegenüber noch erwähnt.

Zur Trauer gehörten Schuhe mit einer Lasche mit grünem Aufsatz, die bei Mädchen rot war. (Menges, S. 27) Ähnliche Laschen finden sich bis heute an den Schuhen in der Schwalm wie auch an den wenigen Originalen im Biedenköpfer Schloss.

Auch hier ist schwarz nicht nur einfach Trauerfarbe, sondern eher als „ernste“ Farbe anzusehen, also reserviert für die Trauer ebenso wie für die Kirche.

Interessant ist, dass die jungen Frauen in Wallau während der Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre des 20. Jhs. ihre bisher weißen Strümpfe schwarz umfärbten, da keine Seife mehr zu bekommen war, um die Strümpfe weiß halten zu können. Diese Veränderung wurde von den älteren Frauen aber nicht nur nicht nachgeahmt, sondern fand sogar heftigen Widerstand. Die alten Wallauerinnen behielten die weißen Strümpfe bis zu ihrem Tode bei.  Während Veränderungen wie der Wegfall des Stilpchens, der "von oben" verordnet worden war, oder des sehr unpraktischen Bruststeckers keinen allzu breiten Widerstand ausgelöst hatten, war diese sehr stark die Optik verändernde Abwandlung der Veränderung eindeutig zu viel. Veränderungen waren also jeder Generation zwar durchaus freigestellt, wie auch im Laufe des 20. Jh. immer neue Stoffe alte Textilien verdrängten, und z.B. in der Kinderkleidung bedruckte Baumwollstoffe die alten grünen Büffel ablösten. Aber weiße Strümpfe stellten aufgrund der offensichtlichen Arbeit, die ihr Weißhalten erforderte, ganz eindeutig einen echten Grund zu Stolz für ihre Trägerinnen dar. Diese Veränderung musste also ganz grundsätzlich Widerstand hervorrufen. Welche Trachtenträgerin ihre Strümpfe nicht mehr weiß halten konnte, die musste schlichtweg  fürchten, als faul zu gelten, ein Ruf, dem sich keine gestandene Frau aussetzen wollte, nur weil ein Krieg Seife knapp machte. Auch hier ist die Tracht also eindeutig Ausdruck des eigenen Stolzes und nicht eines sozialen Korsetts.

 

Rot und Grün

 

Die Farbe Rot gilt gemeinhin als Kennzeichen für die jungen Leute in der Trachtenlandschaft Hessens. Besonders ausgeprägt ist diese Verwendung in der Schwälmer und der Marburger katholischen Tracht. In den übrigen Trachten der Gegend um Marburg trifft das aber nur noch bedingt zu. 

 

Die bekannteste Marburger Tracht, nämlich die evangelische, trennte sich bereits um 1900 von den Stilpchen mit roten und grünen Randbändern, alle Einfassungen wurden unabhängig vom Alter der Trägerin nun nur noch in Schwarz ausgeführt. Schön zeigen das die Postkarten dieser Zeit, die zwar auch noch kleine Mädchen mit farbig gefassten Stilpchen zeigen, aber die schwarz gebänderten überwiegen und sind um 1910 praktisch ausschließlich zu sehen. Auch andere Trachtenteile sind hier im 20. Jahrhundert traditionell nicht wirklich durch ihre Farbgebung Lebensaltern zuzuordnen.

 

Die Schneppekappen- und Dellmutschentracht (die "Ämtertrachten" aus dem Amt Blankenstein und dem Amt Biedenkopf) waren in ihrer Grundfarbe immer schwarz mit weißen Hemden und Bändern, lediglich die Bruststecker zeigten die Jugendfarben, ebenso wie im 19. Jh. die Stickereien auf Bändern, Schürzensaum und auf den Ärmeln des Wamses, die im 20. Jh. vom Wamst abgetrennt und als eigenes Schmuckstück, die so genannte „Stauchen“ getragen wurden (Wie sei mer da gemostert“, S. 9). Die vorhandenen schwarz-grünen tauchen in der Literatur nicht auf. Die der Dellmutschentracht  waren rot-grün oder violett-grün wie die der Tracht des Breidenbacher Grundes, aber ohne die Bommeln. Im Untergericht trugen die Frauen jeden Alters die Strumpfbänder in rot und grün, nur in der Trauer waren die Farben abgewandelt in grün mit lila. Das belegen sowohl Menges in seiner Dorfchronik von 1936 (S. 27), als auch die Aussage von Elise Blöcher I aus Oberdieten in „Der Tracht treu geblieben“ S. 134. Nicht einmal die bunten bedruckten Tücher der Breidenbacher-Grund-Trachten wurden in die Ämtertrachten übernommen. Zwar zeigt das Blatt 39 bei Kretschmer von der Tracht des Amtes Biedenkopf ein auf schwarzer Seide mit Rot und Grün besticktes Tuch, ein so genanntes Stocktuch, dessen auf dem Bild unsichtbare auf dem Rücken aufliegende Ecke weiß bestickt war und die auch im Untergericht belegt sind, aber die im Breidenbacher Grund später legendären Rosentücher wurden hier nie übernommen. In der Tracht des Breidenbacher Grundes Untergericht sind rot und grün meist zusammen anzutreffen, auch noch bei verheirateten Frauen, schwarz ist die ernste Farbe für Trauer und Kirche, nur in der härtesten Trauer verliert die Trachten alle Farbe, selbst den Kontrast weiß zu schwarz.

 

Weiß und Hochzeit

 

Die Farbe weiß spielte in der Tracht eine völlig andere Rolle als heute. Denkt man in den Städten seit Königin Victoria sofort an ein Hochzeitskleid, steht in den bäuerlichen Trachten weiß für spezielle „weiße“ Arbeiten und Festtage. Geheiratet wurde auf dem Land entweder in Schwarz wie auch in den Städten vor der Hochzeit im englischen Königshaus 1840, zu der zum ersten Male belegt ein weißes Hochzeitskleid getragen wurde oder in einer mit speziellem Schmuck aufgeschappelten Festtagstracht wie in der Schwalm. Im Hinterland bestand der Brautschmuck seit etwa 1910 aus einem in den zum Kranz gelegten Zopf eingeflochtenen Ring kleiner Seidenblumen, einem Brautstrauß und einem Ansteckzweig aus Seidenblumen, dem Schmuck, den auch der Mann trug. Diese Schmuckform war wohl aus der Marburger evangelischen Tracht übernommen, wo die Braut in Abendmahlstracht mit dem Kranz über der Hochzeitshaube zum Traualtar schritt. Auf dem Hochzeitsbild von Heinrich Benner und Elisabetha, geborene Henkel, von 1902 erscheint noch keine der genannten Zierden, auf dem Hochzeitsbild ihres Sohnes Otto und Katharina Benner, geborene Donges, von 1935 sind alle Schmuckarten vorhanden. Männer heirateten seit dem 19. Jh. in guter städtischer Kleidung, an deren Revers der Zweig angesteckt wurde. Eine teure Tracht für nur einen einzigen Tag hätte auf dem Land niemand jemals angefertigt. Menges überliefert 1936 für die Hochzeit gar keine Tracht, er beschreibt eine Hochzeit in Weiß. Übrigens gab es die Schmuckformen alle in bunt und in schwarz, falls die Braut während einer Trauerzeit zum Traualtar schreiten musste.

 

Weiß war im Hinterland die kochbare Unterwäsche, feine Schürzen zur Kirmes und die guten Hemden. Weiße Tücher wurden von Frauen zur Heuernte als Kopftücher getragen, die Leinenschürzen zur Heuernte waren ebenfalls weiß. Die Strümpfe waren weiß bis zum Seifenmangel in der Weltwirtschaftskrise.    

 

 

6. „Kleiderordnung“ für Frauen des Untergerichts des Breidenbacher Grundes

 

Den Begriff „Kleiderordnung“ habe ich bewusst in Anführungszeichen gesetzt, damit nicht der Eindruck entsteht, ich wolle Trachtenvereinen ec. Vorschriften machen. Ich möchte nur die verschiedenen Kleiderordnungen, die in den letzten zwei Jahrhunderten im Untergericht im Breidenbacher Grund angewandt wurden, auflisten. Beispielsweise wird im Buch „Wie sei mer da gemostert“, das sich in erster Linie an Trachtentänzer richtet, eine sehr eigenständige neue Trageweise einiger Teile verschiedener Zeiten als quasi völlig neue Tanztracht des Untergerichts beschrieben, die historisch betrachtet in dieser Kombination der Einzelteile aber nie zuvor getragen wurde. Für Tänzer mag es notwendig sein, nicht so beschwerlich zu tragende neue Trachten zu kreieren, die sich nur noch sehr ungefähr an die alten Vorbilder anlehnen, allerdings sollte auch die zuvor alt überlieferte Trageweise im Gedächtnis bewahrt werden, um der eingangs beschriebenen gedanklichen „Reinigung“ der Tracht durch willkürliches Weglassen wirkungsvoll zu begegnen. Deshalb habe ich mich bemüht, möglichst alle Trachten aller rückzuschließenden Anlässe aufzulisten.    

 

Junge Frauen

In der Mitte des 19. Jahrhunderts trugen junge Frauen zu Feiertagen zum grünen Wamst mit dem schwarzen Rock aus Beiderwand mit einem angenähten Mieder aus Tuch ein schwarzes Tuch um den Hals, einen sehr farbigen Bruststecker, ein rotes Stilpchen, das scheinbar noch nicht allzu üppig, wahrscheinlich einfach in weiß, bestickt war und zumindest zu hohen Feiertagen gelbe, ansonsten sicherlich weiße Strümpfe mit einfarbig roten, grünen oder blauen Strumpfbändern mit Bommeln, dazu barocke Schuhe mit Schnallen und spitz zulaufenden Absätzen. Unter dem Mieder trugen sie noch keinen Unterrock oder Büffel, sondern nur ein langes weißes Hemd. Die Büffel erschienen nach 1860. Spätestens ab diesem Zeitpunkt waren zum Kirchgang die Wämster grün mit verschieden farbigen doppelten Knopfreihen, zum Sonntagnachmittag weiß mit grüner Stickerei am Ärmel, zur weißen Arbeit auf der Heuwiese schlicht weiß und zur Kirmes weiß mit roter Stickerei an den Ärmelmanschetten. Unter dem Kirmeswamst wurde ein spezielles Hemd getragen, das Halstuch mit sehr schönem gesticktem Kragen. Es gab auch Halstücher in schwarz, die wohl zum Kirchgang an hohen Festtagen verwendet wurden.

Ob jemals Bruststecker im Untergericht zum Alltag wie im Amt Biedenkopf getragen wurden, kann nicht sicher gesagt werden. Sie dürften aber aufgrund des tragenden Pappgerüstes zu hinderlich gewesen sein, da sie auf das Kinn drückten, anders als die weichen Brusttücher der Dellmutschentracht, weshalb Alltagsbruststecker sehr unwahrscheinlich sind. Bruststecker gehörten aber sicher für die bis um 1860 geborenen Jahrgänge zur Festtags- und zur Abendmahlstracht. Justi zeigt ein einziges Bild einer jungen Frau in grünem Wamst und roten Bruststecker also in Sonntagstracht.

Die Schürzen waren zum Feiertag wohl blau geglätzert mit nicht bestickten Bändern, zum Werktag trocken blau, zum Sonntag schwarz geglätzert. Gute blaue Schürzen wurden von beiden Seiten geglätzert, zur Trauer ungeglätzert, also „trocken“ getragen. Zur Kirmes trugen junge Frauen weiße Schürzen mit roter Stickerei, zur weißen Arbeit auf der Heuwiese einfache weiße.

Im Allgemeinen wurden im Untergericht die Schürzenbänder vor dem Bauch gebunden, beim Umzug 1844 in Darmstadt findet sich auf dem Blatt von Nebel aber auch eine Schürze, die eindeutig hinter dem Rücken gebunden wurde, anders als bei der Obergerichtstracht auf dem selben Blatt, die so wie auch heute noch üblich vor dem Bauch gebunden ist. Die Schürzenbänder sonntäglicher Schürzen konnten bei jungen Frauen um 1900 noch bestickt sein.

 

Gegen Ende des 19. Jhs. wurden die roten Stilpchen immer mehr und mehr bestickt, offensichtlich kennzeichneten prachtvollere Stilpchen durchaus die reicheren Familien. Das Stilpchen, das Justi auf Tafel XIV wiedergibt, ist erstaunlich schlicht verglichen mit späteren Stilpchen des 20. Jhs., aber von der gleichen handwerklichen Qualität. Lediglich die Zahl der verwendeten Farben nimmt mit der besseren Erreichbarkeit bunter Garne deutlich zu. Möglicherweise gab es auch rote Stilpchen für den Alltag und Prachtstilpchen in rot für die Kirmes und den Sonntag, denn die Heu machende Frau auf Justis Tafel XI trägt zur weißen Arbeitstracht ein rotes Stilpchen.  Zum Sonntagspredigtgottesdienst war das Stilpchen weiß ohne Stickerei mit Piqué  überzogen, zum Abendmahl und zur Konfirmation war es weiß wattiert mit schwarzer Stickerei. Dazu wurden geglätzerte schwarze Schürzen und schwarze Wämster getragen, die jungen Frauen mit weiß bestickten Schürzenbändern.  In leichter Trauer war das Stilpchen blau gemustert, in harter Trauer schwarz. Die schwarzen Stilpchen verschwenden aber bereits während des 19. Jhs. und wurden durch schwarze Tücher ersetzt. Schon deutlich früher im 19. Jh. verschwanden die Stirnlappen, weiße flache Hauben oder Tücher, die auf der Stirn unter dem Stilpchen hervorsahen. Auf dem Bild der jungen Wallauerin mit dem roten Bruststecker hängt im Hintergrund ein Bild einer älteren Frau, die augenscheinlich noch einen Stirnlappen trägt.

 

Im 20. Jahrhundert wurden die grünen Wämster durch blaue ersetzt, die Knopfreihen generell einreihig, die Knopffarben verschwanden. Das ging einher mit dem Verbot der Stilpchen um die Jahrhundertwende, die von den jungen Frauen befolgt wurde. Stilpchen wurden nur noch von Frauen getragen, die vor 1898 konfirmiert worden waren.

Farbe brachten nach dem Verschwinden der Bruststecker besonders die Tücher, die lose um den Hals getragen wurden und im Alltag wahrscheinlich schon im gesamten 19. Jh. schlicht gestreift waren. Es gab gestreifte Tücher mit roter und blauer Grundfarbe, rot für den Alltag, blau für die Trauer. Für den Sonntag gab es wohl auch blau-rot gestreifte, zumindest zeigt Justis Tafel XII Elisabeth Schmidt mit einem solchen zum roten Stilpchen, einem weißen Wams mit roten Knöpfen und Randapplikationen  und einer geglätzerten dunkelblauen Schürze, also fein angezogen. Am Sonntag trugen die Frauen bis etwa 1870 schwarze Seidentücher, die nach 1850 bunt bestickt wurden, oft auch in der Form so genannter Freude-Leid-Tücher, also mit einer bunt bestickten Ecke für Sonntage und einer weiß bestickten Ecke für Trauerzeiten, so dass immer die gerade aktuelle Ecke offen getragen und die andere darunter verborgen werden konnte. Ab etwa 1880 wurden die schwarzen Seidentücher verdrängt durch die so genannten Rosentücher, die von einem holländischen Händler, der Frauenhaare aufkaufte, nach Wallau gebracht wurden. Sehr schnell verbreiteten sie sich unter den jungen Frauen, zumal es sie in rot-grün und violett-grün gab, also passend zu Alltag und Trauer in die Tracht eingefügt werden konnten.

  

Verheiratete Frauen 

Nach der Hochzeit änderte sich im 19. Jh. für Frauen im Breidenbacher Grund weniger als meistens angenommen wird. Tatsächlich hatte die Verdoppelung der Verwandtschaft und damit der potentiellen Trauerfälle mehr Auswirkungen auf die Trachtenträgerinnen als die Hochzeit selbst. Zur Kirmes wurde wohl von der Hochzeit ab immer weiße Schürzen ohne Stickerei und weiße Wämster mit grüner Stickerei getragen. An den grünen Wämstern verschwanden wahrscheinlich die roten Knöpfe und wurden ersetzt durch die grünen. Ohne Trauerfall wurde aber weiterhin das rote Stilpchen getragen ebenso wie die rot-grünen Hosebännel und die rot-grünen Rosentücher. Verstarben einer jungen Frau z.B. die Eltern einige Jahre vor der Hochzeit, so trug sie das blaue Stilpchen und die blau-grünen Hosebännel und Rosentücher bereits vor der Hochzeit, starb ein Elternteil sehr kurz vor der Hochzeit, also etwas mehr als ein Jahr, so trug die Braut harte Trauer, also trockenes Schwarz. Für solche Fälle existierten auch die Schmuckstücke zur Hochzeit wie der Seidenblumenkranz in schwarz, vermutlich aber nur in reichen Häusern. Die Trauerfarben wurden aber nach den Wechseljahren allgemein getragen.

 

Man kann also über die Frauentracht vor 1898 kurz gefasst sagen:

 

Alltag: weißes Hemd, dünner Unterrock, blaues Wamst. Über dem schwarzen Mieder eine blaue Schürze, weiße Strümpfe, grün-rote Strumpfbänder. Wenn ein Stilpchen getragen wurde, was nicht immer der Fall war, dann wohl ein rotes, nach dem ersten Trauerfall ein blaues; rotes gestrolichtes Tuch, Schuhe mit roter Lasche.

Sonntag zum Gottesdienst: weißes Hemd, grüner Büffel, schwarzes Wamst, geglätzerte schwarze Schürze, weißes Piquéstilpchen, rot-grüne Strumpfbänder, weiße Strümpfe, schwarzes Tuch mit Fransen.

Zum Abendmahlsgottesdienst: weißes Halstuch, darüber schwarzes Halstuch, schwarzes Tuch mit Fransen, schwarz-weißes Stilpchen, dazu Wischtuch.

Sonntag nach dem Gottesdienst: weißes Hemd, grüner Büffel, grünes Wamst mit Knöpfen in rot oder grün,  schwarzes Mieder, geglätzerte blaue Schürze mit Glaskopfnadeln festgesteckt, rot-grüne Strumpfbänder, weiße Strümpfe, rotes Stilpchen.

Hohe Feiertage nach dem Gottesdienst: weißes Hemd, grüner Büffel, weißes Wamst ohne Stickereien, weißes Piquéstilpchen, schwarzes Mieder, weiße Schürze, rot-grüne Strumpfbänder, weiße Strümpfe.

Weiße Arbeit: weißes Hemd, dünner Büffel, schwarzes Mieder; grünes Wamst über dem Mieder getragen, um es in der Hitze ablegen zu können; rotes Stilpchen, rot gestrolichtes Tuch, weiße Strümpfe, rot-grüne Strumpfbänder.

Leichte Trauer: ersetze jeweils das weiße oder rote Stilpchen durch das blaue, die rot-grünen Tücher durch die grün-blauen, Strumpfbänder in schwarz-grün, Schuhe mit grüner Lasche, grünes Wamst mit schwarzen Knöpfen.

Harte Trauer: Alles außer Hemd und Strümpfen in trockenem Schwarz, Strumpfbänder in schwarz-grün, Schuhe mit grüner Lasche.

Im Winter: statt der dünnen Unterröcke blaue Büffel, statt schwarzer Tücher der schwarze Schal.

Nach 1898: Die Stilpchen verschwinden ganz, die grünen Wämster werden blau ohne Knopffarben, die schwarz-grünen Strumpfbänder werden blau-grün oder violett-grün.

 

7. Die Männertracht

Das bisher Geschriebene gilt für die Trachten der Frauen. Die Trachten der Männer müssen bereits im 19. Jh. als verschwunden betrachtet werden oder sie lebten in allerletzten Resten noch bis in die 40er Jahre des 20. Jh. fort. So zeigt die Chronik des Dorfes Wallau/Lahn von Menges aus dem Jahr 1936 noch einige Bilder ausnahmslos alter Männer in Kitteln, aufgrund der Lebensdaten der Abgebildeten müssen die Aufnahmen in den frühen 20er Jahren entstanden sein. Lediglich in der Schwalm verlief der Niedergang der Tracht deutlich anders. Die Trachtenzählung von Helm von 1931 verzeichnet in der Schwalm für das Jahr 1900 sogar noch Dörfer, in denen 100% der Männer im Alltag Tracht trugen, nämlich in Ransbach, Röllhausen und Trockenbach. In zehn weiteren Dörfern trugen 90 oder mehr Prozent der Männer Tracht.  1931 ist diese Dichte zwar schon Vergangenheit, aber in Gungelshausen tragen noch 86% der Männer im Alltag Tracht. Das zeigt ein wichtiges Problem der berühmten Zählung von 1931: Die offensichtlich noch in Wallau oder sonst im Hinterland lebenden alten Männer in Tracht wurden schlicht gar nicht mehr erfasst, nur für die Schwalm erhob Helm überhaupt Zahlen für männliche Trachtenträger.

 

Allerdings gehören heute eigentlich in der echten Brauchtumspflege auch echte Männertrachten dazu, da nur dann ein voller Eindruck vergangenen Kulturgutes entsteht. Schön ist das bei unsren privaten Ausflügen in Tracht zu sehen, z.B. in den Hessenpark. In einer solchen Umgebung werden die Frauen- und Männertrachten zu einer wunderbaren Einheit mit den Gebäuden.

 

Immerhin ist nicht zu vergessen, dass die Formensprache einer Kultur sich als gewachsene  Kulturleistung zu einheitlichen Formen zusammenschließt. So wie auf europäische Augen Gewänder und Gebäude des chinesischen oder indischen Kulturkreises gleichermaßen exotisch, aber eben auch stimmig wirken, so entspringen die Formen der verschiedenen   Fachwerk- und Trachtenlandschaften Deutschlands ebenso einem einheitlichen Formengefühl der jeweiligen lokalen Bevölkerung.

 

Eine Schwierigkeit in der Behandlung der Männertrachten liegt darin, dass sie augenscheinlich nicht so differenziert waren, wie die der Frauen. Allgemein wird zwar oft angenommen, dass Trachten in all ihren Erscheinungsformen regional und landschaftlich unterschieden waren, für die Männertrachten trifft das aber offensichtlich nicht so einfach zu. Das hat mehrere Gründe. Zum einen veränderten sich Frauentrachten zu ihrer vollständigen starken Differenzierung erst während des 19. Jh., also zu einer Zeit, als die Männer die Trachten bereits oftmals ablegten. Klassisches Beispiel dafür ist das Land an der Dill. Hier entwickelten sich vermutlich erst gar keine echten Männertrachten, da z.B. in der Gegend um Ehringshausen bereits im 17. Jh. die ansässigen Bauern zumindest im Nebenerwerb im Eisenbergbau arbeiteten, wo in der Folge für schwer sauber zu haltende bestickte Kleidung beim besten Willen kein Platz mehr war. Gleichzeitig aber kam Geld an die Dill, das den Kauf eingeführter Stoffe und Kleider erlaubte. Und wie immer wurde, entgegen der heute landläufigen Meinung, gekaufter Stoff dem selbstgewebten vorgezogen, sowohl von Männern als auch von Frauen. Die Männer gingen zur städtischen Kleidungsweise über, bei den Frauen blieben bis zum Beginn des 20. Jh. nur noch fragmentarische Erinnerungen an eine vergangene Tracht. (So zeigen Bilder und wenige erhaltene Stücke aus Katzenfurt erstaunlicherweise Gruppen von Frauen um 1900 mit identischer Gestaltung der Rocksäume mittels zweier schwarzer Streifen mit einer Schürze davor. Lediglich ein einziges mir bekanntes Bild aus dem Fundus des Katzenfurter Heimat- und Geschichtsvereins zeigt vielleicht noch eine Katzenfurterin in einer Art Spätform einer Sonntagstracht, die Diamantene Hochzeit von Frau Johannette Klatt geb. Lorenz  (14.07.1876 – 17.10 1969) am 07.08 1957.  Ihr Mann Heinrich Klatt (16.09.1871 – 26.09. 1958) trägt eindeutig völlig städtische Kleidung. Johannette Klatt trägt einen bestickten gestrickten Motzen, einen auffallend langen Rock, der den städtischen Einfluss verrät, mit den zwei für Katzenfurter Kleidung um 1900 typischen zwei Streifen in schwarz, und eine Schürze mit Spitzenborte. Dass Hessen um 1900 weitaus mehr Trachten aufwies als die immer und immer wieder sowohl von Koch als auch Justi und Hottenroth gezeigten, lag wohl einerseits an der Erreichbarkeit per Bahn (Seim, S. 64 ff), als auch an der im 19. Jh. bevorzugten Altertümlichkeit bestimmter Trachten. Die Katzenfurter Tracht blieb schon allein deshalb außen vor, weil sie keine so mittelalterliche Haube mehr aufwies wie die Schneppekapp oder die Stilpchen. Sie war schlicht zu modern, um im nach möglichst alten Vorfahren gierenden 19. Jh. Beachtung finden zu können und blieb deshalb unpubliziert, wie so viele andere auch.)

Andererseits verlangt das heute oft anzutreffende „Schubladendenken“ geradezu nach einer ebenso feingliedrigen Männertrachtenlandschaft, wie sie für die Frauen anzutreffen war. Dagegen aber sprechen alle Bilddokumente eine ganz deutliche Sprache. Schöne Beispiele dafür sind wie viele andere drei  Holzschnitte in der „Gartenlaube“ des Jahrganges 1874, nämlich „Die Hochzeit“ auf S. 659 (No. 41), besonders aber „Das Pfingstfest“ S. 375 (No. 23) und „Pancratius Sanitabringius“, S. 575 (No. 36). Auf allen drei Bildern, die, was nicht vergessen werden darf, alle Festtage und daher wohl keine Alltagskleidung zeigen, sind deutlich Männer und Jungen zu sehen, die Fellmützen tragen, die Schwälmer Pelzkappen auffallend ähneln, auch andere Teile der Kleidung könnten genauso in der Schwalm getragen werden. Da verwundert es dann nicht, dass eine Postkarte, deren Bild auch in einem Buch abgedruckt wurde (Heßler: Hessische Landes- und Volkskunde, Bd. II, S. 193, hier eindeutig als aus Buchenau beschriftet) neben einem Bauern in weißem Kittel und mit Dreimaster einen Mann in einer Tracht der der Schwalm nicht unähnlich ist zeigt, nämlich einen Buchenauer in Kirmestracht. Bei genauem Hinsehen ist deutlich zu erkennen, dass es sich um keinen Schwälmer handelt, aber ausgerechnet nach einem Hinterländer sieht der Mann im Bewusstsein der meisten Trachteninteressierten erst recht nicht aus, obwohl im Hinterlandmuseum eine Puppe in  sehr ähnlicher  Kleidung steht. Kacheln aus Marburg aus dem 18. Jh. belegen die Kleidung des Buchenauers mit weißem Kittel und Dreimaster übrigens ebenfalls als Tracht von Männern mit Frauen in Dellmutschentracht.

Interessant ist auch, dass Bilder aus den 1900er Jahren in der Wallauer Dorfchronik (z.B. S. 384)  deutlich alte Männer in schenkellangen dunkelblauen geglätzerten Kitteln zeigen, wie sie heute allgemein ausschließlich der Schwalm zugeschrieben würden; auf den Wallauer Bildern allerdings ohne die typischen hohen steifen Kragen. Deutlich sind aber die mit einem Streifen verstärkten Schulterstücke zu erkennen. Bedenkt man aber, dass auch an Hemden die Kragen gesondert angefertigt und angesetzt wurden, kann mit einiger Berechtigung vermutet werden, dass die hohen und sehr steifen Kragen von den älteren Männern schlicht abgenommen wurden, als sie ihnen zu unbequem wurden. Dass solche dunkelblauen Kittel aber auch im Hinterland getragen wurden, wurde mir endgültig vor ein paar Jahren klar, als der Leiter des Biedenköpfer Hinterlandmuseums, Herr Bamberger, mich sah, als ich meinen Kittel trug, den ein Sammler seinen Aufzeichnungen nach aus Mones Haus in Wallau, mit Sicherheit aber im Breitenbacher Grund  gekauft hatte. Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Kittel von Mones Heinrich, Heinrich Henkel (26.7.1847 – 20.11.1921), handelt, der in der Wallauer Dorfchronik auf einem Bild von etwa 1900 im knielangen Kittel eindeutig mit hohem Kragen vor seinem noch mit Stroh gedeckten Haus stehend abgebildet ist (S. 320 gegenüber, unten). Der Kragen ist für einen gestickten Hemdkragen eindeutig viel zu hoch. Meines Wissens ist es das einzige Bild eines Kittels mit hohem Kragen aus Wallau.

 

Herr Bamberger betrachtete die Schnallen am Kragen sehr genau und erzählte mir dann, dass in der Sammlung des Museums eine Schachtel aus der Frühzeit des Museums mit solchen Schnallen existiere, deren Herkunft und Verwendung wegen der fehlenden Beschriftung bisher nicht exakt klar gewesen sei. Tatsächlich gelten solche Kittel mit steifem Kragen und Schnallen als ausschließlich in der Schwalm vertreten. Daran kann aber aufgrund all dieser Funde meiner festen Überzeugung nach nicht mehr festgehalten werden. Niemals haben so viele Schwälmer Söhne ins Hinterland geheiratet, dass hier schachtelweise Teile ausschließlich Schwälmer Trachten auftauchen könnten. Ältere Schwälmerinnen bestätigten mir zudem, der Kittel sei „anders“, auch wenn sie nicht genau benennen konnten, in welchen Details. Solche Kittel wurden offensichtlich wie die bekannteren hüftlangen blauen Arbeitskittel in weiten Gebieten Hessens und anderer Teile des deutschen Sprachraumes getragen. Allerdings unterscheiden sich die Regionen bei genauerem Hinsehen auch durchaus in den Männertrachten. So waren die geglätzerten bestickten dunkelblauen Kittel mit ihren Messingschnallen im Hinterland den Bildern nach zu urteilen Kleidung zu guten Anlässen wie z.B. sonntags nach der Kirche oder zu gestellten Aufnahmen. In der wesentlich reicheren Schwalm waren sie noch lange im 20. Jh. weit verbreitete Alltagskleidung für die Feldarbeit (Trachtenleben in Deutschland 3: Hessen, S. 161) Die Schwälmer Bauern trugen zum Sonntag deutlich reicher bestickte Kittel oder an der städtischen Mode des späten 18. Jh. angelehnte Kleidung mit Dreispitz.

 

Letzterer ist ein schönes Beispiel für die schlechte bildliche Überlieferung. Es gibt zwar kein einziges mir bekanntes Bild eines Wallauers mit Dreispitz, so dass der Eindruck entstehen konnte, es habe sie hier nie gegeben. Allerdings steht in der Ortschronik von Menges der kurze, aber bedeutungsschwere, Satz: „Dagegen sieht man keinen Mann mehr am Sonntage mit dem Dreimaster, dem dunkelblauen Kirchenrock  mit den zwei Knopfreihen, den Hosen mit den Klappen, den Gamaschen und den Schnallenschuhen, oder an Werktagen mit dem blauleinenen Kittel oder der Zipfelmütze. Die alte Volkstracht ist von dem männlichen Teil der Bevölkerung endgültig abgelegt.“ (S. 25), und: „Früher zogen die Männer ein gestricktes Wams an und darüber den blauleinenen Kittel. Als Bürgermeister Christian Hainbach (27.9.1861 – 28.4.1951) im Jahr 1881 zu den Jägern nach Hagenau einrückte, hatte er als einziger Rekrut einen Kittel an.“ Letztere Miteilung bezieht sich wohl auf die Besonderheit, dass ein junger Mann nicht städtisch gekleidet war, wurden Kittel doch noch bis ins 20. Jh. von alten Männern getragen. Die gestrickten Wämster mit doppelter Knopfreihe aber tragen noch viele Jungen auf Klassenbildern um 1900. Die Beschreibung der Kirchgangstracht aber ist absolut die derjenigen, die Justi mehrfach für Männer in Kirchtracht zeigt, wenn er auch keinen einzigen mehr in einem Kirchrock mit doppelter Knopfreihe malt, seine Kirchröcke sind alle modern einreihig geknöpft. Dieselbe Entwicklung fand auch bei den Wämstern der Frauen statt.

 

Die Kittel des Hinterlandes waren auffällig heller gefärbt als die dunkelblauen des Marburger Landes oder die fast schwarzen der Schwalm. Alle wurden aber gleich gearbeitet. Die genaue Farbe bei blauen Kleidungsstücken entstand nicht durch unterschiedliche Farben, sondern durch dieselbe Küppe, in die der Stoff mehrfach getaucht wurde. Je öfter getaucht wurde, desto stärker war die endgültige Färbung.  Auch die Stickereien unterschieden sich. Die heute üblichen Einheitskittel waren so nirgends belegt. Insbesondere der Schnitt war deutlich anders, als bei den heute als Hessenkittel verkauften dunkelblauen Hemden mit weißen Stickereien auf den Schulterstücken. Die alten Kittel waren außerordentlich weit geschnitten. Marburger Kittel hatten breit umrandete Schulterstreifen, die mit sehr offenen Stickereien in weiß und schwarz, teilweise auch zusätzlich mit grün, gefüllt wurden. Im Hinterland wurden die Schultern mit schmalen   Streifen belegt, die in weiß und schwarz dicht bestickt waren.             

Küppefärbung ist eine alte Technik, die mit eigentlich nicht blauen Farbstoffen arbeitet, der bekannteste ist dabei das indische Indigo, das seine Herkunft bereits im Namen trägt, und dementsprechend teuer war. In Hessen war die Färbung mit dem verwandten Waid üblich. Waid war auch die Grundlage für den in Biedenkopf noch weit bis ins 20. Jh. betriebenen Blaudruck. Bei der Waidfärbung wird, stark vereinfacht gesagt, das Waid, die Blätter der Waidpflanze, durch chemische Umwandlung während eines langen Bades in Urin aufgeschlossen und die eigentlich gelben Pflanzensäfte entwickeln ein merkwürdiges Verhalten: Taucht man Stoffe in die immer noch nicht blaue Küppe, so färbt sich nichts. Hebt man die Stoffbahn heraus, sieht sie gelb aus. Lässt man sie aber an der Luft hängen, so verfärbt sich der Stoff im wahrsten Sinn des Wortes zusehends über einen Grünton zu blau. Die erste Färbung ergibt ein sehr helles blau, aber die Küppefärbung erfolgt additiv, das heißt, da ein chemischer Oxidationseffekt die Färbung hervorruft gibt es keinen endgültigen Farbton. Jede neue Oxidation färbt weiter, je öfter getaucht und gefärbt wird, desto dunkler das blau. Die fast schwarz gefärbten Kittel der Schwalm stehen also für massiven Reichtum, da man sehr viele Färbevorgänge bezahlen konnte. Die hellen Hinterländer Kittel sind also nicht ausgeblichen, wie oft zu hören ist, sondern wurden weniger oft in die Küppe getaucht. Die Hinterländer konnten in der Regel schlicht nicht einen Färber für einen ganzen Tag Arbeit bezahlen, sondern nur für drei oder vier Färbungen. Übrigens kommt der Ausdruck des „blauen Montags“ auch aus dem Küppefärben. Sonntags durfte die Küppe aufgrund der starken Geruchsbelästigung nicht abgefüllt und neu angesetzt werden, sondern erst am Montag konnte das Färben der neuen Woche vorbereitet werden. Man konnte also nicht färben, sondern die Hilfskräfte musste die Arbeiten ausführen, die man brauchte um Blau zu machen. Die eigentlichen Färbermeister beaufsichtigten diese schmutzigen Arbeiten nur, sie selbst kamen erst am Dienstag wieder zum Einsatz.

Zum typischen Erscheinungsbild mittelhessischer Bauern gehörte im 19. Jh. nicht nur der Dreimaster in seinen verschiedenen Ausprägungen, sondern auch die  Zipfelmütze. Alte Originale zeichnen sich durch eine sehr feine Machart aus, die meist nicht handgemacht ist, sondern auf mechanischen Wirkstühlen gearbeitet wurde, allerdings mit individuellen Unterschieden, nämlich Initialen und Jahreszahlen. So fein wären die Mützen nicht zu stricken gewesen. Auch die komplizierte Form der zwei Mützenhälften von Hand anzufertigen wäre sehr schwierig gewesen, da ein gestrickter Stoff ja nicht einfach in Form geschnitten werden kann.  Biedenkopf war im 19. Jh. ein Zentrum der Strumpfwirkerei, so dass auch die meisten der mittelhessischen Männermützen hier hergestellt wurden. Auch hier mussten regionale Unterschiede beachtet werden.  Mützen für das Marburger Land wiesen rechts und links der Initialen und Jahreszahlen meist Kronen auf, im Hinterland fehlen diese 

Die Zipfelmützen hatten eine bestimmte Form, die sich an beiden Enden verjüngte. Am oberen blauen Ende bildete sie eine echte Spitze, am unteren weißen Ende saß ein langer unverzierter Schlauchteil, der als Schweißschutz ins Innere der blauen Mütze umgestülpt wurde. Auf den Bildern erkennt man nur den blau-weißen Zierrand der äußeren Mütze. Moderne nachgearbeitet Mützen haben daher dieses Schweißfutter in der Regel nicht, da sie in aller Regel nicht nach alten originalen, sondern nach Bildern gearbeitet werden.  

 

Insgesamt kann man über die Verwendung der Männertrachten wohl folgendes aussagen: Wie in allen europäischen Trachten waren bestimmte Materialien wie Pelzmützen Zeichen finanziellen Wohlstandes, nicht einer bestimmten Gegend. Im Hinterland waren bis etwa 1870 die Männer in Tracht wohl so gekleidet: Sonntags trug man zur Kirche einen Dreimaster und einen Kirchrock mit doppelter Knopfreihe, dazu schwarze Kniebundhosen und weiße Strümpfe mit Schnallenschuhen; nach der Kirche den dunkelblauen knielangen Kittel mit hohem Kragen und, wenn finanziell möglich, Messingschnallen über einem weißen Hemd mit schön gesticktem Killer (Kragen), dazu einen Dreimaster oder die Zipfelmütze. Feierabends trug man den schön gestickten hüftlangen hellblauen Kittel über einer Jacke oder einer Strickjacke, dazu die Zipfelmütze mit Initialen und Jahreszahl und eine weiße Kniebundhose mit Knöpfen an den Seiten, dazu weiße Strümpfe und Schnallenschuhe; an Werktagen den knielangen weißen ungefärbten und unbestickten Kittel mit Halstuch über einem gestrickten Wamst und einem einfachen Hemd, ebenfalls mit einem einfacheren Dreimaster aus einfachem Filz oder die Zipfelmütze. Dazu eine einfache Kniebundhose mit Knöpfen an der Seite, grüne Strümpfe und Schnallenschuhe. Zur Kirmes trugen Männer im Untergericht ein schön gesticktes weißes Hemd,  eine weiße Hose, bunt bestickte Hosenträger mit Blumenstickerei, weiße Gamaschen und schwarze Schnallenschuhe, dazu eine Pelzmütze.  Zu den Schnallenschuhen muss bemerkt werden, dass die Schnallen und Laschen im Hinterland ungleich einfacher gestaltet waren als in der Schwalm. Die Knopfreihen an den Hosen sind offensichtlich eine Übernahme aus den Uniformen des Militärs, an den weißen Hosen scheinen sie dem Bild bei Justi nach zu urteilen aus Messing gewesen zu sein (Justi, Blatt IV, Johannes Müller, Elnhausen). Um 1900 gingen die jüngeren Männer zu den modernen Vollhosen ohne Knopfreihen über, auch wenn noch Kittel getragen wurden (Justi, Blatt VIII, Johann Jost Bamberger, Kaldern).

 

Männer in hessischen Trachtenvereinen tragen heute im Allgemeinen zum blauen Kittel gerne ein rotes Halstuch; interessanterweise tragen bei Justi beide Männer, die Arbeitskittel tragen, ein Hemd mit gesticktem Kragen und kein Halstuch. Wahrscheinlich wurden Halstücher hauptsächlich zur Arbeit getragen, wo sie als Schweißtuch dienten, und zur Kirmes, wo besonders schöne, vom geliebten Mädchen gearbeitete, Tücher zur Schau getragen wurden.  Es wäre wünschenswert, wenn auch bei der Pflege des Volkstanzes die Männer nicht in Arbeitstracht mit Frauen in Fest- oder Kirmestracht tanzen würden.

 

Ein einmaliges Bilddokument zeigt eine weitere Kleidungsweise eines Hinterländer Mannes aus Wallau, das Bild der Rosa Hein (aufgenommen um 1884, Wallauer Chronik Bd. 2, Bild 3 im Tafelteil nach S. 14), auf dem im Hintergrund ein Mann steht, der eine eigentümliche Kleidung trägt. Soweit zu erkennen ist, trägt er über einem knielangen Kittel eine Schürze, eine nur am obersten Knopf geschlossene Jacke und eine lange Hose. Auf dem Kopf trägt er einen runden Hut, die Schuhe sind nicht zu erkennen. Besonders interessant ist die Schürze, denn sie könnte zu einer Berufstracht gehört haben. Menges beschreibt im ersten Band der Wallauer Ortschronik auf Seite  27 – 28 die verschiedenen Berufe, die an ihrer Kleidung erkennbar waren. Neben dem Schornsteinfeger waren insbesondere Metzger an ihrem schwarz-weiß gestreiften Kittel mit weißer Schürze und schwarzseidener Ballonmütze, Schreiner am rot-weiß gestreiftem Kittel mit blauer Schürze, Bäcker am weißen Kittel mit weißer Schürze, Schmiede und Zimmerleute an der ledernen Schürze, die Zimmerleute wie die Pflasterer an den schwarzen Manchesterhosen, die Papiermacher an grünen Schürzen zu erkennen. Leider ist die Farbe der Schürze auf dem besagten Bild nicht zu identifizieren.

 

Wer es sich leisten konnte, trug sonntags und sicherlich zur Kirmes zur weißen Hose mit Knopfreihe an den Längsnähten eine geblümte Weste und eine grüne oder blaue Jacke mit doppelter Knopfleiste, dazu ein Halstuch und eine Pelzmütze, die sich in Details von der in der Schwalm deutlich unterschied, z.B. im deutlich höher gezogenen Mittelteil. Wie auch in der Frauentracht diente die Kleidung  durchaus zur Unterscheidung auch in reich und arm, wenngleich durch die einheitliche Kleidung auch eine gewisse Gemeinschaftlichkeit herausgestellt wurde. Wie aber die Frauen aus reicheren Familien durch gekaufte Stoffe und gemusterte Bänder sich von den ärmeren, die Selbstgewebtes tragen mussten, unterschieden, so teilten Pelzmützen und Messingknöpfe die Männer in reichere und ärmere. Wer es sich leisten konnte, ließ die Stilpchen seiner Töchter bei der Fachfrau des Ortes anfertigen, nur die ärmeren Familien mussten sie in Heimarbeit sticken; die reicheren Mieder waren aus Samt, die ärmeren aus schwarzem Leinen. In einer Zeit, in der Selbstversorgung Alltag war und Geld zum Erwerb nicht selbst fertigbarer Waren besorgt werden musste, war nicht Selbstgemachtes  das Ideal, sondern das Gekaufte. Ein klassisches Beispiel sind die selbstbestickten Strohtücher, die mit aufkommendem Handel schnell, flächendeckend und vollständig durch die bedruckten Rosentücher ersetzt wurden. Männer mit Knöpfen an den Hosen zeigten, dass sie beim  Militär gewesen waren, also einen Teil der Welt gesehen hatten und dort Geld verdient hatten, von dem man sich Messingartikel kaufen konnte. Diese spezielle Männertracht wurde zum Vorbild bestimmter Kleidungsweisen zum Biedenköpfer Grenzgang.

 

Ein amüsanter Nebenaspekt der Männertracht im Breidenbacher Grund ist übrigens, dass hier auch Bilder von Männern in Frauentracht und umgekehrt existieren. Noch bis weit ins 20. Jh. hinein gab es den mittelalterlichen Brauch des Geschlechterwechsels zur Fassenohcht, der Fastnacht.

 

8. Die Kindertracht

Die Kindertracht des Breidenbacher Grundes war einfach. Auch Jungen trugen meist in den ersten Lebensjahren Mädchenkleidung, da sie nach unten so praktisch offen war. So stehen auf diesem Bild Katharina Donges und ihr kleiner Bruder Heinrich vor 1914 beide in Kinderröcken da.

 

Die Stilpchen waren einfache Kappen, die aus mehreren alten Stoffteilen zusammengesetzt waren.

 

Die kleinen Mädchen trugen nicht die volle Tracht, sondern eine Art Unterrock als Mieder, das bei den kleineren nicht vorne geschlossen wurde, sondern auf dem Rücken, wahrscheinlich solange die Mutter das Kind anziehen musste; bei etwas größeren Mädchen konnte geschnürt werden. Kleine Mädchen trugen offensichtlich auch zu guten Anlässen Büffel, wie sie im Obergericht über dem Hemd direkt unter dem Mieder ohne Wamst dazwischen getragen wurden; eine Postkarte mit Personen aus Weifenbach zeigt hier sowohl grüne als auch ansonsten im Untergericht unbekannte rote Büffel. Möglicherweise wurden hier alte, nicht mehr aktuell getragene rote Büffel für Erwachsene umgeschneidert und damit aufgetragen. Über dem Büffel wurden hier scheinbar von den Mädchen nur Schürzen getragen. Die Mieder waren im 20. Jh. aus billigem Druckstoff. Zu den Sonn- und Feiertagen hatten besser gestellte Familien wohl auch Mädchenvolltrachten zumindest mit weißem Wamst und Vollmieder. Das Wamst wurde unter dem Mieder getragen. Erst um die Konfirmation herum gingen die jungen Frauen zur Volltracht in allen Farben und Gelegenheiten über.

 

Jungen trugen einfache Kittel, später städtische Kleidung. Für feine Anlässe trugen sie gestrickte Wämster und lange Hosen. Die Kittel überlebten bei den Jungen offensichtlich länger als bei den erwachsenen Männern, da städtische Kleidung, aus der die Kinder herauswuchsen, sehr teuer war. Aber bereits um 1900 scheinen die meisten Jungen bereist städtisch gekleidet worden zu sein (Bild 5 in Lückings Trachtenleben in Deutschland: Hessen), während die Mädchen noch volle Tracht trugen.   

 

Nachwort

 

In diesem kurzen Text ging es mir darum, den Trachten einer bestimmten überschaubaren mittelhessischen Region ein kleines Denkmal zu setzen als Bekleidungsform, die genau das nicht war, was heute oft in ihr gesehen wird, nämlich weder ein unveränderlicher Block, eine Stoff gewordene Bastion des angeblich so geistig schwerfälligen flachen bäuerlichen Landes noch eine farbenfrohe exotische Ausdrucksform des seiner Scholle verbundenen Urdeutschen. Die Trachten Mittelhessens waren in erster Linie Kleidung, persönliche und gesellschaftliche Ausdrucksform und Identitätsmerkmal einer Gesellschaft. Vor allem aber waren sie menschliche Kultur und damit lebendig, wandelbar, nicht abgeschlossen. Im Grunde gilt das noch heute. Niemand kann von heutigen Menschen, die sich aus welchem Grund auch immer für Trachten interessieren und sie wann auch immer tragen, verlangen, dass sie sich an Regeln vergangener Zeiten und Begründungen für diese Regeln halten. Aber es muss klar sein, was dann unter „Tracht“ noch verstanden wird. Wer Tracht modernisiert hat dazu jedes Recht, er muss das nur

deutlich machen,  damit die unterschiedlichen Formen von historischer und modernisierter Tracht auseinander gehalten hätten werden können. Wer allerdings so tut, als stelle er vergangene Zeiten dar, sollte sich den Regeln und den tatsächlich verwendeten Kleidungsgewohnheiten verpflichtet fühlen. Hier ist ansonsten Modernisierung, die nicht gekennzeichnet wird, von Verfälschung nicht zu unterscheiden. Es wäre unverzeihlich, wenn die vollständige alte Form der Tracht völlig aus dem Bewusstsein und der Erinnerung der Nachgeborenen verschwände und nur noch die neue Tracht der Trachtenvereine überliefert und die gesamte Tracht darauf reduziert würde.  Ich hoffe zu dieser Erinnerung einen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Vielleicht sind ja in einigen Jahren mehr junge Leute wieder dazu bereit, zu Feiertagen wieder die vollständige Tracht des Breidenbacher Grundes in all ihren Erscheinungsformen zu zeigen. Das wäre dann ein echtes Weiterführen der Tradition neben der wahrscheinlich auch notwendigen Vereinfachung der schweren und dicken Tracht für den Volkstanz.  Die vollständige Tracht ist einfach sehr schön anzusehen, sie muss sich in keiner Weise vor den berühmteren Trachten der Schwalm oder den oft nachempfundenen Trachten Bayerns verstecken oder versteckt werden. Die alten Bedenken von der alltäglichen Tracht des Untergerichts des Breidenbacher Grundes oder anderer Regionen als hässliches Kennzeichen zurückgebliebener Gegenden sollten endgültig verdrängt werden durch ein Bewusstsein für die Einzigartigkeit einer jeden Tracht als unserem einmaligen kulturellen Erbe. Und auch wenn sie nicht bequem sein mag, so ist sie doch Teil des Stolzes unserer Vorfahren. Als letztes Bild der noch Beweis: Volltracht tragen kann auch Spaß machen!

 

 

 

 

 

Literatur

 

G. Landau: Beschreibung des Kurfürstenthums Hessen, Kassel 1842

 

E. Duller: Das deutsche Volk in seinen Mundarten, Sitten, Gebräuchen, Festen und Trachten, Leipzig 1847, Nachdruck Reprint-Verlag-Leipzig

 

D. O. Gierke: Das Recht des Breidenbacher Grundes, Breslau 1882

 

H. Künzel: Geschichte von Hessen; Friedberg 1856

 

A. Kretschmer: Das große Buch der Volkstrachten; Eltville nach 1870, Reprint 1977

 

K. Heßler: Hessische Landes- und Volkskunde; insbesondere Band II, Marburg 1904

 

F. Justi: Hessisches Trachtenbuch; Marburg 1905

 

F. Hottenroth: Die nassauischen Volkstrachten; Taunusstein 1905, Reprint 1985

 

F. Hottenroth: Handbuch der deutschen Tracht, Stuttgart o. J.

 

F. Hottenroth: Deutsche Volkstrachten, Frankfurt/M. 1923

 

R. Helm: Hessische Trachten: Verbreitungsgebiete, Entwicklung und gegenwärtiger Bestand; Heidelberg 1932

 

R. Helm: Deutsche Volkstrachten aus der Sammlung des germanischen Nationalmuseums in Nürnberg; München 1932

 

R. Helm: Die bäuerlichen Männertrachten im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg; Heidelberg 1932

 

E. Retzlaff: Deutsche Trachten; (Die Blauen Bücher) Königstein i.T. und Leipzig 1936

 

A. Menges: Geschichte und Kulturkunde des Dorfes Wallau an der Lahn; Die Gemeinde Wallau 1936, Band 1 der Wallauer Dorfchronik

 

S. Ebert: Die Marburger Frauentracht; Marburg 1939

 

H. Retzlaff/R. Helm: Hessische Bauerntrachten; Marburg 1949

 

W. Lücking/M. Hain: Trachtenleben in Deutschland III, Hessen; Berlin (Ost) 1859

 

D. Henßen: Die Frauentracht des alten Amtes Biedenkopf; Marburg 1963

 

U. Ewig: Die Frauentracht des Breidenbacher Grundes; Marburg 1964

 

H. Friebertshäuser: Die Frauentracht des alten Amtes Blankenstein; Marburg 1966

 

G. J. Grein: Die Trachten im Großherzogtum Hessen 1844; Sammlung zur Volkskunde in Hessen Bd. 8, Otzberg-Lengfeld, o. J. (um 1980)

 

Wallauer Vereine –GbR – und Ortsbeirat von Wallau (Lahn): Geschichte und Kulturkunde des Dorfes Wallau an der Lahn; Band 2 (1936 – 1989), Wallau 1989  

 

B. Miehe: Der Tracht treu geblieben, Studien um regionalen Kleidungsverhalten in Hessen;        3. Auflage Haunetal/Wehrda 1995

 

Hans Deibel: Kleidung nach Landes-Brauch, Kleidung und Trachten der einfachen Leute des Schlitzer Landes im 19. und 20. Jahrhundert; Inauguraldissertation am Fachbereich Geisteswissenschaften und Philosophie Philipps-Universität Marburg 2000,

URL http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2001/0096/

 

Andreas Seim und Siegfried Becker: Volkskundliche Skizzen von Rudolf Koch; Marburg 2000

 

Liesel und Franz Konrad: Familienbuch Wallau (Lahn) und Weifenbach; Darmstadt 2001

 

Bezirk Mitte der Hessischen Vereinigung für Tanz- und Trachtenpflege – Kreisgruppe Marburg-Biedenkopf e.V. : Wie sei mer da gemostert oder Wie trage ich die Tracht richtig?; 2. Auflage Haiger 2006

 

Bildquellen

Alle Aufnahmen von Trachtenstücken stammen vom Autor; den Sammlern und Leihgebern herzlichen Dank.

 

 

 
 
   
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